Mitreisenden, es gibt kurz auflackernde Gemeinsamkeiten, Plätze,
die man auch besucht hat, Anekdoten, Banalitäten.
Den Vormittag verschlafe ich wollüstig in der Kabine, durch
die offenen Luken atme ich das Meer. Am Nachmittag werden
wir informiert, dass wir noch eine zweite Nacht auf dem Schiff
verbringen müssen, erst am nächsten Morgen werden wir Istanbul
erreichen.
Nach dem Abendessen wieder Smalltalk mit den beiden Fran¬
zosen, man gibt an mit Ländernamen und Erlebnissen, trinkt
ukrainischen Cognac aus Plastikbechern.
Und dann, in der hereinbrechenden Dunkelheit, sind sie da: auf
dem verlassenen Deck, zwischen dem warmen Rosa im Westen
und dem kalten Türkis im Osten: zu sechst, dünn, schmutzig,
barfuß, mit ängstlichen, gehetzten Blicken um sich schend. Sie
wollen Zigaretten. Hunger haben sie sicher auch, aber den spüren
sie wahrscheinlich nicht mehr. Wir haben keine Zigaretten, und
so schnell, wie sie aufgetaucht sind, sind sie wieder verschwunden.
Die zweite Nacht auf dem Schiff zeigt mir, was Seekrankheit
ist- obwohl ich das Gefühl habe, das Meer sei ganz ruhig und das
Schaukeln nicht mehr spüre, ist mir schlecht, als wir endlich in
der ersten Morgendämmerung durch die Kulissen der beleuch¬
teten Brücken in den Bosporus einfahren. Wie ein orientalisches
Märchen aus meinen alten Bilderbüchern liegt Istanbul vor uns.
Die blecherne Stimme aus dem Lautsprecher fordert uns auf, zu
den Grenzformalitäten in die Rezeption zu kommen. Mein Kopf
dröhnt, mein Magen rebelliert und ich fühle mich bleischwer. Der
Raum ist voll von müden Fernfahrern, die die Prozedur schon
kennen und keinen Blick aus den Luken werfen. Es riecht nach
müden Menschen, die schon lange unterwegs sind.
Eine kaum merkbare Aufregung an der Bar, ein Fernfahrer,
ein Polizist und der Kapitän unterhalten sich leise, nur aus ihren
Gesichtsausdriicken entnehme ich, dass etwas vorgefallen ist. Ich
denke an die diinnen Gestalten, die wir gesehen haben. Face¬
control nennen sie das, was jetzt folgt: der Grenzbeamte ruft der
Reihe nach aus den Passen die Namen auf, der Aufgerufene steht
auf und meldet sich... Wie in der Schule.
Ein Rucken, begleitet von metallischem Scheppern, ist das Zei¬
chen, dass die Rampe geöffnet ist, die Fernfahrer schleppen sich
zu ihren LKWs. Wir zwängen uns wieder zwischen den immer
noch stinkenden riesigen Rädern der Lastwagen zum Ausgang.
Ich blicke unter den Anhängern durch, versuche, mir vorzustellen,
wo man sich hier verstecken kann und habe keine Ahnung davon,
wie verzweifelt man sein muss, um diesen Wahnsinn zu wagen.
Polizisten mit Hunden gehen die stehenden Kolonnen durch,
sie suchen offensichtlich jemanden. Aus Gesprächsfetzen, die
ich nicht verstehe, entnehme ich dennoch, dass etwas diesmal
nicht Routine ist.
Wir betreten Istanbul auf ölverschmiertem Boden, zwischen
rostigen Ketten, wir sind am Frachthafen Haydarpascha auf der
asiatischen Seite angekommen. Vor zwei Tagen hat es hier ein
Unwetter gegeben, ein großer Kran ist umgestürzt und hat eine
Explosion ausgelöst. Offensichtlich war das der Grund für unsere
Verspätung. Golfballgroße Hagelkörner haben Löcher in Dächer
und Planen geschlagen und Autos zerbeult.
Noch eine letzte Passkontrolle, wir verabschieden uns von unse¬
ren Mitreisenden, wünschen ihnen alles Gute, bevor wir als Letzte
das Büro der Grenzpolizei betreten. Es ist derselbe Polizist, der
vorhin auf dem Schiff schon alle kontrolliert hat, er blättert müde
in unserem Pass, bis er zögert, den Pass noch einmal durchsucht,
und meint: Wo ist das Visum? Sie brauchen ein Visum. Ja, sage
ich, können wir es hier bekommen? Ich denke an die paar Mal,
wo ich am Flughafen in der Warteschlange stand, ein Formular
ausfüllte, einen Geldschein in der Hand, dann der Stempel im
Pass, und weiter ging's zum Ausgang in die lärmende Stadt. Doch
nein, hier ist nicht der Flughafen, hier gibt es keine Touristen,
die Computer können die Pässe nicht lesen. Daher gibt es hier
kein Visum.
Wir sitzen fest, wird mir mit einem Schlag klar, und ich spüre in
mir etwas wie Ungeduld, Neugier und die Erkenntnis, dass wir jetzt
dem Apparat von Bestimmungen und Gesetzen ausgeliefert sind.
Und gleichzeitig kommt mir die Situation unwirklich vor. Rund
um den Container, in dem das Büro untergebracht ist, befindet
sich ein hoher Zaun mit Stacheldraht, dahinter zwei Schiffe der
Küstenwache mit drohend ausgereckten Wasserwerfern. Polizisten
mit Schlagstöcken und Hunden patrouillieren.
Man lässt uns warten, in dem Container zwischen Kaffeemaschi¬
ne, Teekocher und Schreibtischen, ein Kommen und Gehen, wir
sitzen allen im Weg, unser Gepäck in eine Ecke geschoben. Ein
Beamter bietet uns Tee an, den allgegenwärtigen türkischenTee.
Mein Magen ist leer, ich spüre noch das Ziehen und Schau¬
keln des riesigen, schweren Schiffs im mir, als säßen wir in einer
schwimmenden Kiste.
Es ist acht Uhr geworden, und ich kann es nicht erwarten,
diesen Ort zu verlassen, denke an ein gutes Frühstück, an die
Düfte des großen Basars. Doch wir warten, und diesmal ist nicht
nur unsicher, wann wir hier wegkommen, sondern auch ob, be¬
ziehungsweise wie und wohin. Der Polizist, der zuvor mit dem
Kapitän gesprochen hat, ist plötzlich für uns zuständig, man wird
uns helfen, das Visum zu bekommen. Dann verschwindet er. Als
er wiederkommt, erklärt er uns in mühsamem Englisch: „One
person is missing, we must find him, it is very important...“ Die
sechs Flüchtlinge, denke ich... Einer istihnen entkommen, hängt
er im Fahrgestell eines der Lastwagen, die aus dem Bauch des
Schiffs rollen — oder ist er aus Verzweiflung ins Meer gesprungen?
Was ist mit den anderen passiert?
Hundestaffeln bewegen sich auf das Schiff zu. Wir sind un¬
interessant.
Die Zeit löst sich auf, und meine Ungeduld, diesen Ort zu
verlassen, weicht einer Art von Resignation, dass es nicht mehr
in unserer Macht liegt, etwas zu tun, wir sind ausgeliefert den
Gesetzen, Bestimmungen, von denen wir sonst immer nur im
Zusammenhang mit Menschen auf der Flucht lesen und hören.
Aber trotzdem können wir uns nicht mit ihnen vergleichen, nur
eine Ahnung von Ausgeliefertsein, Festgehaltenwerden... Im
Hinterkopf immer noch das Bewusstsein, wir haben Geld, kön¬
nen ein Flugticket kaufen, die Reise abbrechen und heimfliegen.
Nachhause. Wir können die österreichische Botschaft anrufen,
jemand wird sich um uns kümmern.
Das Schiff liegt immer noch im Hafen, die Hunde sind ver¬
schwunden, wir wissen nicht, ob sie den Vermissten gefunden
haben. Die Geschäftigkeit im Büro nimmt zu, neue Passagiere,
die auf die Abfahrt des Frachters warten.
Eine junge Beamtin versucht, uns zu helfen, sie ist die Einzige,
die Englisch spricht, und sie bemüht sich, uns online das Visum
zu verschaffen. Doch es funktioniert nicht, wir geben auf, und
der Ernst der Situation wird uns immer klarer. Ein Flugticket
nachhause? Nein, das geht nicht, wir dürfen diesen Ort nicht
verlassen, wir müssen zurück dorthin, wo wir hergekommen
sind. Wieder zwei Nächte auf dem Schiff? Langsam kriecht echte
Verzweiflung in mir hoch.