Als offizieller Vertreter Südtirols sprach der His¬
toriker und Landtagsabgeordnete Dr. Hans Heiss
bei der Enthüllung der Gedenktafel für die Opfer
des nationalsozialistischen Endphase-Verbrechens
in Hohenberg (Niederösterreich) am 15. April
2018. Ermordet wurden fünf als behindert geltende
Menschen aus Südtirol und eine unbekannte junge
Frau. Die Gedenktafel für sie befindet sich gut
sichtbar an der Außenseite der Aufbahrungshalle
des gemeindeeigenen Friedhofs angebracht. Außer
Hans Heiss sprachen die Initiatorin der Gedenkta¬
‚fel Elisabeth Malleier (siehe ihren Aufsatz in ZW
Nr. 1-2/2017, 5. 7-8), Bürgermeister Heinrich
Preus und Konstantin Kaiser für die Theodor Kra¬
mer Gesellschaft. Musikalisch begleitet wurde die
Gedenkstunde durch die Bläser des Musikvereins
Hohenberg.
Die Rolle der Option für Südtirol 1939
Zunächst eine kurze historische Einordnung
der Ereignisse in Hohenberg und der hier ver¬
übten Verbrechen aus Südtiroler Sicht. Dazu
ist ein Blick auf historische Voraussetzungen
erforderlich:
Die wichtigste war die Option von 1939: Sie
ist — dies gilt es zu betonen - einer der gravie¬
rendsten Einschnitte der Südtiroler Geschichte
im 20. Jahrhundert.
Die ab Juni 1939 von den Regimes mit präzi¬
ser Schärfe gestellte Frage, ob sich die Südtiroler
deutscher und ladinischer Sprache dazu bereit
erklärten, die deutsche Staatsbürgerschaft anzu¬
nehmen und ins Großdeutsche Reich auszuwan¬
dern oder ob sie in Italien verbleiben wollten,
war eine grundlegende Herausforderung. Sie
traf die Fxistenz aller Bewohner der Provinz
Bozen, das südliche Tirol, das 1919 zu Italien
gekommen war, ins Mark.
Diese Herausforderung der Option erfasste
die persönliche Existenz ebenso wie die politi¬
sche Ebene, als eine Prüfung, die beinahe jede/
Einzelne/n wie die Gemeinschaft von Grund
auf erschütterte.
Hinter der Option stand die Frage, ob die
Südtiroler bereit wären, die Heimat preiszuge¬
ben, entweder durch persönliche Abwanderung
oder durch die mit der Italien-Option verknüpf¬
te, mehr denn je drohende Assimilierung. Es
war — zugespitzt gesprochen — die Frage, welche
Form des Selbstmords man bevorzuge, ob durch
einen Revolverschuss oder eine Dosis tödlichen
Gifts. Die gestellte Frage war nichts weniger als
jene nach der Selbstauflösung der Gesellschaft,
ob sie dazu bereit sei, sich in ihre Bestandteile
zu verflüchtigen.
Wir wissen, wie dieser erste Bevölkerungs¬
transfer endete, den das Großdeutsche Reich
unter Himmlers Federführung 1939 anstrebte,
er nahm einen relativ glimpflichen Ausgang,
mit einem demografischen Aderlass von rund
75.000 bis 78.000 Personen der rund 250.000
deutschen und ladinischen Südtiroler, die ins
„Reich“ wanderten, ein Verlust, der schmerzlich
genug war, aber nicht tödlich.
Die „Absiedlung“ der „Schwachen“
Blickt man auf Herausforderungen von der
Größenordnung der Option so sollte sich die
Aufmerksamkeit stets auf die Schwächsten einer
Gesellschaft richten, da sich an diesen die Tie¬
fe der Anfechtung erweist. Der Bestand einer
Gesellschaft ermisst sich häufig am Zustand
ihrer schwächsten Glieder, heute wie in der
Vergangenheit.
Die Forschungen zur Option in Südtirol, die
seit gut 30 Jahren an Intensität gewonnen haben,
haben allerdings bisher die schwächsten Glieder
nur am Rande gestreift und ließen daher eine
große Lücke offen, nämlich die Frage:
Wie wirkte sich die Option auf die gesell¬
schaftlich Schwächsten aus, auf die Ärmsten,
Kranken und Beeinträchtigten? Die Frage blieb
lange Zeit kaum beachtet.
Dabei waren diese weitgehend wehrlosen
Gruppen den Folgen der Option in besonde¬
rem Maß ausgesetzt: Die hilflosen, denkbar
schlecht abgesicherten Alten, körperlich und
geistig beeinträchtigte Personen, asoziale und
deviante Menschen, all jene, die sich nicht in
die gesellschaftliche Norm fiigten, die Hilfe
benötigten und Kosten verursachten. All jene,
die zwar „rassisch“ den Vorgaben der Diktatu¬
ren entsprachen, aber ansonsten als wertlose
Glieder am „Volkskörper“ galten, getreu einem
Menschenbild, das in letzter Konsequenz von
Mitleidlosigkeit und sozialer Kälte geprägt war.
Tausende solcher Schwacher, von alten,
kranken, pflegebedürftigen und behinderten
Südtirolerinnen und Südtirolern aller Alters¬
gruppen gerieten 1939 in ein Räderwerk der
Bürokratie, in eine Montagekette der Erfassung,
Bewertung und Verschiebung. Dabei zeigte sich
bald, dass sie in der Heimat vielfach ebenso un¬
erwünscht waren wie im Großdeutschen Reich.
Sie galten - so schien es — als Manövriermasse
zweiter oder dritter Klasse. Grundrechte und
Menschenwürde versagten oft genug gegenüber
dem Wunsch, die Schwachen als Zählmaterial
der Option einzusetzen und die Probleme mit
ihnen zu beseitigen.
Die „Schwachen“ gerieten in den Fokus der
Tiroler Öffentlichkeit vor wenigen Jahren: nach
der Entdeckung des Friedhofs in der Psychiat¬
rischen Anstalt der Stadt Hall in Tirol im Jahr
2010/11 mit Hunderten bislang unentdeckter
Gräber. Aus ihrer umfassenden Untersuchung
ging hervor, dass zahlreiche Bewohner der An¬
stalt unter denkbar traurigen, ja erschreckenden
Umständen zu Tode gekommen waren, durch
Vernachlässigung, mangelnde Pflege, bewuss¬
te Fehltherapie, auch absichtsvoll begangenen
Mord, wie vor allem eine große, von Stefan
Lechner 2016 vorgelegte Studie gezeigt hat.
Die Schwachen erfuhren die volle Bandbreite
zwischen Zuwendung, Gleichgültigkeit, Ver¬
nachlässigung und Verwahrlosung bis zu be¬
wusster Tötung durch Fahrlässigkeit, Entzug
von Pflege und Nahrung bis hin zur planvollen
Ermordung.
Viele der Alten und Heiminsassen blieben
an ihre Heimstandorte gebunden und kehr¬
ten nicht mehr nach Südtirol zurück, obschon
manche von ihnen lebenslang große Sehnsucht
nach der Heimat hatten.
Hier in Hohenberg vollendete sich ein besonders
düsteres Kapitel in der Geschichte der Option
und in der Absiedlung der Schwachen.
Die Morde, die hier in den letzten Kriegstagen
an ebenso verwahrlosten wie wehrlosen Perso¬
nen verübt wurden, bündeln in ihrer Brutalität
nochmals den Rassismus, den Mordwillen des
Regimes und seiner Helfer. Sie machen deutlich,
wie sehr sich bis zum Schluss in einzelnen Tätern
die fixe Vorstellung fest gesetzt hatte, man müsse
mit dem sog. „Abschaum“ aufräumen, bis zum
bitteren Ende.
Umso dankbarer sind wir für das Land Süd¬
tirol, dass die Marktgemeinde Hohenberg die
Anregung aufgegriffen hat, das Gedächtnis der
Personen mit vollem Namen in einer Gedenk¬
tafel zu ehren. Es ist keine kleine Überwindung
und eine mutige Handlung, auch solche Kapitel
in der Ortsgeschichte aufzurufen, wo man doch
weit hellere Seiten der eigenen Vergangenheit
aufzuschlagen hätte. Aber eine Gemeinschaft
lebt auch aus der Redlichkeit heraus, aus der
Ehrlichkeit des Gedenkens, aus dem Mut zur
Erinnerung.
Solche Ehrlichkeit beseitigt Schweigen und
Verdruckstheit, sie richtet äußerlich und mo¬
ralisch auf. Und mit dieser Gedenktafel für Ka¬
tharina und Alois Platzer aus dem Vinschgau,
für Andreas Resch und Christian Knolseisen