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Wieder Warten... Es sammeln sich immer mehr Menschen
vor dem Container, Fernfahrer, Lastwagen rollen auf das Schiff.
Uns scheint man vergessen zu haben. Die Sonne steht schon
hoch, der schmale Schatten vor dem Büro ist verschwunden, es
ist Mittag geworden, und Pizzaboten fahren auf ihren Mopeds
hupend hin und her, die Fernfahrer bestellen ihr Mittagessen, es
herrscht fröhliche Stimmung, von der ich mich gerne anstecken
lassen würde. Auch wir bestellen Pizza — Essen beruhigt. Ein
Motorrad wird bewundert, Fotos werden gemacht.

Die Abfahrt des Schiffes zurück nach Odessa rückt näher, und
vor uns liegt Istanbul mit seinen Gerüchen, seinem Lärm, seiner
Geschäftigkeit. Was werden sie mit uns machen, das frage ich
mich, längst lautet die Frage nicht mehr: Was werden wir machen?

Die junge Beamtin kommt auf uns zu, es gibt noch eine Mög¬
lichkeit, das Visum zu erhalten, hat sie herausgefunden, sie ist
teuer, aber sie könnte für uns eine Agentur kontaktieren. Sie wird
jemanden anrufen, der unsere Pässe holt, dann fünfzig Kilome¬
ter fährt, das Visum beantragt, auf die Bestätigung wartet, und
dann sollte er uns, wieder nach 50 Kilometern Fahrt, die Pässe
mit dem Stempel bringen. Ich stelle mir vor, wie lange man für
hundert Kilometer im Stau in Istanbul braucht, aber Zeit spielt
keine Rolle mehr, wir haben keine Wahl. Das Schiff sollte jetzt
ablegen, alle Passagiere sind eingestiegen, wir sind die Einzigen,
die zurückbleiben.

Ich schließe die Augen und stelle mir vor, ich würde am Strand
sitzen, immerhin ist ein paar Meter vor mir Wasser, den Stachel¬
draht lösche ich hinter meinen Lidern.

Wir haben aufgehört zu sprechen, es gibt nichts mehr zu sagen
im Moment, und Sprechen ist gefährlich, es könnte passieren, dass
wir einander die Schuld geben - wer hätte sich besser informieren
müssen, wer hat Schuld an dieser Situation?

Beide starren wir den Schranken an, durch den das Auto mit
unserer Erlösung kommen muss. Ich habe mir nicht gemerkt, wie
der Mann aussah, dem wir das Geld und die Pässe in die Hand
gedrückt haben. Je intensiver ich die Einfahrt anstarre, umso
schneller muss er da sein.

Es ist Nachmittag geworden, ich bin müde. Wo werden wir
die Nacht verbringen? Ich habe schon einen Blick in den leeren
Wellblechschuppen geworfen, auf dem „Transitzone“ steht, und
möchte mir nicht ausmalen, wie es ist, dort auf dem nackten
Boden auf den Schlaf zu warten.

Und dann ist er da, ich hätte ihn fast übersehen, den Mann, der
uns zuwinkt, lächelt, in der Hand hält er unsere Pässe.

Und nun noch einmal Passkontrolle, ein desinteressierter Blick
des Beamten auf den Stempel - und wir verlassen die Polizeistation,
sind angekommen, ich werde meinen Cafe trinken, die Düfte nach
Holzkohlengrill und Tabak einatmen und das Gefühl, zwischen
den Grenzen festzusitzen, wird sich darin auflösen und ich werde

die Geschichte erzählen.

Diyarbakir, die Millionenstadt im Südosten der Türkei, wurde
zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Hälfte von ArmenierInnen
bewohnt. Heute sind es zirka zwanzig- Nachkommen der Über¬
lebenden des Genozids mit 1,2 Millionen Ermordeten, den bis in
die 2000er Jahre eine Regierung nach der anderen verleugnete,
ja sogar „Armenier“ mit „Verräter“ gleichsetzte. Noch heute gilt
„armenisch“ als Beleidigung.

In den 2000ern demokratisierte sich die Türkei vorübergehend,
Beitrittsverhandlungen mit der EU wurden aufgenommen. Unter
der Führung der kurdischen Bewegung wurde das armenische Tabu
gebrochen. In Diyarbakir, seit 1999 von der linken prokurdischen
Demokratischen Partei der Regionen (DBP) regiert, begann eine
kritische Auseinandersetzung über die Beteiligung von Kurden am
Genozid. Es sei eine Pflicht, Selbstkritik zu üben. Um Vergebung
zu bitten sei kein Gnadenakt, betonte Naksi Sayar, ehemaliger
Stadtrat der Bürgermeisterin von Sur von 2004 bis 2014.

Zum ersten Mal seit einem Jahrhundert konnten sich Armenier¬
Innen wieder zeigen. Von 2005 bis 2015 organisierte die arme¬
nische Gemeinde sonn- und feiertägliche Versammlungen, mo¬
natliche Frühstückstreffen, Armenisch-Sprachkurse. Eine zentrale
Rolle spielte die Renovierung der armenische Kirche Surp Giragos,
die mit Spenden der armenischen Gemeinde, der Diaspora und
mit Unterstützung der Stadt Diyarbakir ermöglicht wurde. 5000
ArmenierInnen und KurdInnen nahmen 2011 an ihrer Wieder¬
eröffnung teil. Den meisten Kurden sei bewusst, dass Diyarbakir
einst eine armenische Stadt war.

Im Sommer 2015 wurde der Waffenstillstand zwischen der Tür¬
kei und der PKK aufgekündigt. Die Kämpfe in Sur, der Altstadt,
dauern drei Monate, die Bevölkerung floh, vom historischen arme¬
nischen Viertel Gavur blieb nur Schutt. Kurdische Volksvertreter¬
Innen werden nur wenige Monate nach dem Putschversuch von

2016 unter der Anschuldigung, einer Terrororganisation anzu¬
gehören, abgesetzt und festgenommen. Ankara ernannte statt
ihrer Zwangsveralter. Mit dem Krieg kehrte die Türkisierung
im großen Stil zurück. Es gibt keinen Kontakt mehr zwischen
den ArmenierInnen und der Stadtverwaltung. Die armenische
Bevölkerung Diyarbakirs versammelte sich diesen 24. April nicht
zum Gedenken an den Genozid.

Gesprochen wird nur mit größter Vorsicht. Im Verborgenen
nur wird das Wissen um die eigene Geschichte weitergegeben.
1915 waren Zehntausende armenische Kinder und Frauen von
Kurden gerettet oder entführt und islamisch erzogen worden.
Vieler dieser islamisierten ArmenierInnen, ihre Zahl wird auf eine
bis drei Millionen in der Türkei geschätzt, erzählen ihren Kindern
und Enkelkindern, wer sie wirklich sind. Zu ihnen zählt Gafur
Turkay. Sein Großvater, er stammte aus Sason, einer Berggegend
nordöstlich von Diyarbakir, war von seinen kurdischen Nachbarn
gerettet worden. Ob Christ oder Moslem, das habe keine Bedeu¬
tung, sagt Gafur. „Die Armenier sind ein Volk, keine Religion.“

Auch Meryem (Name geändert) wird das Wissen um ihre Fami¬
liengeschichte weitergeben. Sie arbeitete als Krankenschwester in
Izmir, wo sie wegen ihres kurdischen Akzents angefeindet wurde.
Von ihrer armenischen Herkunft zu erzählen wäre undenkbar
gewesen. Nervlich am Ende, zog sie mit ihrem Mann nach Di¬
yarbakir, in ein weltlicheres, kosmopolitischeres Klima dieser
kurdischen Stadt. Wenn ihre beiden kleinen Kinder alt genug
sind, wird sie ihnen die Geschichte ihrer Familie erzählen.

Zusammengefasst aus dem Französischen von Sonja Plefl nach ei¬

nem Zeitungsbericht von Jérémie Berlioux vom 24. April 2018 in
„L’Orient-Le Jour“ (Beirut).

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