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Der Schweizer Schriftsteller und Jurist Rainer Bressler hat ein fünfbändiges Monumentalwerk mit insgesamt rund 1900 Seiten vorgelegt; die einzelnen Bände tragen die Titel „Reisen — Spielen — Schreiben — Dichten — Weben“. Jeder Band integriert einen Aspekt erlebter Geschichte in einen alltäglichen Kontext, um ihn les- und erkennbar zu machen. Bressler wählt dazu eine eigene literarische Form. Er durchmischt private Dokumente (Tagebücher, Briefe, Gedichte aus dem Familiennachlass, überlieferte mündliche Aussagen und Erinnerungen) und allgemeine Dokumente (Gesetze, Medienberichte, Zitate von anderen Autoren und Anmerkungen) mit eigenen Reiseberichten, Erzählungen, Hörspielen, Theaterstücken und Romanen. Dabei verflicht er Dokumentarisches mit Fiktivem, die Vergangenheit mit der Gegenwart. Die Texte sind ineinander verschachtelt. Die Übergänge dazwischen sind durch einen thematischen Zusammenhang charakterisiert. Diese Form erlaubt es Bressler, über das dokumentierte Private hinaus Allgemeinheit zu schaffen, privat Erlebtes über Zeiten und geografische Räume zu vernetzen mit vergleichbaren menschlichen Situationen und diese zu exemplifizieren mit Zitaten namhafter moderner Denker. Der rote Faden ist die Geschichte der Familie Bressler (ursprünglich Breslauer) im 19. und 20. Jahrhundert. Der Autor hat ein umfangreiches Familienarchiv geerbt, das er inzwischen dem Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich übergeben hat. Der Nachlass illustriert die vertrauten Themen jüdischen Schicksals in Deutschland: Emanzipation und Integration durch Taufe, Patriotismus aus Begeisterung für die deutsche Kultur, dann unerwartet die Ausgrenzung, Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung, schliesslich die Ansätze, das Geschehen nachzuerleben, um es zu verstehen und in grössere Zusammenhänge einzuberten. „Spuren“ steht für die Überreste, welche die Familie dem Nachkommen hinterlassen hat, aber auch für die Fährten, in denen der Erbe den Vorfahren folgt. Bressler wurde in der Schweiz durch seine Hörspiele bekannt. Er hat denn auch das Talent, das Geschehene und die damit verflochtenen weiteren Texte dramatisch darzustellen. Die Lektüre ist wegen der Verschachtelungen anspruchsvoll, aber sie lohnt sich in jeder Hinsicht. Und der ironische bis satirische Erzählstil in der fiktiven Prosa ist glänzend. In „Reisen“ spiegelt Bressler die erzwungene Emigration des Vaters, beschrieben in Briefen und Tagebüchern, an einer eigenen Reise nach Japan, die er gleichfalls tagebuchartig beschreibt. In beiden Situationen erleben die Protagonisten dasselbe Gefühl der Verlorenheit in der Fremde und des Heimwehs. Der Vater, Hans-Günther Bressler, konnte nach der Flucht aus Deutschland 1937 in Bern das Staatsexamen ablegen und war nachher sein ganzes Leben lang als Psychiater in der Klinik Königsfelden im Aargau tätig. Die bruchstückartigen Erinnerungen, die den Autor auf der Japanreise überkommen, sind übrigens der Anlass, sich auf die Spurensuche zu begeben mit der Absicht, die Situation des Vaters nachzuerleben. Der Vater lebt sich in Königsfelden ein. Das ist sein Wirkungskreis. Der Autor konstruiert dem gegenüber den Wirkungskreis eines heutigen mittelständischen Menschen, der seine Welt zeitweise mit Abscheu als Kasperletheater empfindet. Diese Beschreibung ist eine bissige, sehr schwungvolle Satire. Der erste Band endet im dokumentarischen Teil mit der Geburt des Sohnes — des Autors — und im Fiktiven mit der Rückkehr von Japan. Im zweiten Band, „Spielen“, geht es um die Rollen, die den Menschen zugeteilt werden. Die Geschichte hat dem Vater Hans-Günther Bressler viele Wahlmöglichkeiten des Individuums weggenommen. Abgesehen von der Vertreibung drängt sie ihn in eine Rolle, die er gar nicht wahrnehmen will. In seinem Wirkungskreis wird er nicht etwa wegen seiner jüdischen Herkunft, sondern als verhasster Deutscher angefeindet. Von Deutschland nicht mehr als zugehörig anerkannt, in der Schweiz als Deutscher abgelehnt, muss er sich schliesslich als Jude bekennen, obschon er sich, aus einem assimilierten Elternhaus stammend, längst nicht mehr jüdisch fühlt. Er gibt zwar die komplexen Umstände bekannt, aber das verhindert nicht, dass er nun als Jude abgestempelt wird. Teils wird ihm deswegen Sympathie entgegengebracht („plötzlich wollen alle Juden sein“). Eine weitere Rolle wird ihm zugeteilt, indem er zu einer Art Ankerplatz fiir die in Nazideutschland zunehmend entwurzelten Eltern wird. Er kann nichts tun als sie mittels einer fleissigen Korrespondenz an seinem Leben teilhaben zu lassen und ihnen schliesslich Lebensmittel zu schicken. Der Autor stellt dem dokumentarischen Teil unter anderem ein Hörspiel und ein Theaterstück gegenüber, eine Art Übersetzung ins Nachvollziehbare. Zentral im dritten Band, „Schreiben“, ist das Tagebuch einer Verwandten des Autors, Minna H. aus Ratibor, Schlesien, von 1868 bis 1871. Dieses wird eingebettet in eine Erzählung, in der es um den Diebstahl des Tagebuchs einer heutigen jungen Frau geht, sowie eine Satire, die sich mit einer Liebschaft befasst. Tagebücher dienen ja der persönlichen Aufzeichnung und Reflexion, also nicht dem Zweck der Kommunikation — höchstens mit Nachkommen, falls sie überliefert werden. Eindriicklich ist im dokumentarischen Tagebuch das Schicksal einer jungen jüdischen Frau geschildert, der eine Berufsausbildung verwehrt war und die sich nur durch Heirat hätte emanzipieren können, was aber nicht gelang, weil das Geschäft des Vaters zusammenbrach und ohne Mitgift eine Heirat nicht möglich war — dies ein typisches Schicksal von bürgerlichen Töchtern im 19. Jahrhundert. Am Ende werden die beiden Tagebücher verquickt, die Protagonistin der Erzählung entdeckt neben dem Tagebuch der Minna H. weitere Dokumente, welche das weitere Schicksal dieser Familie offenbaren. Der vierte Band, „Dichten“, befasst sich im weitesten Sinn mit Gärungen in der Gesellschaft, Rebellion, Revolution, Aufbruch. Die Gärung entsteht aus der Spannung zwischen den Generationen — gleichsam an der Nahtstelle zwischen Vergangenheit und Zukunft. Eine wichtige Rolle spielen hier Gedichte. Zentral ist der Roman „Gärung“ eines fiktiven verschollenen Dichters. Die Spannung der Generationen betrifft darin die vom Wohlstand geprägte bürgerliche Schweiz. Dieser Text wird verschachtelt mit Bresslers Hörspiel „Aufruhr in Zürich“, das einen Prozess um den Aufruhr der jungen Männer Füssli, Hess, Lavater in Zürich zu Beginn des 19. Jahrhunderts konstruiert; ausserdem mit einem Text von Hans-Günther Bressler zu Freiligraths „Glaubensbekenntnis“ von 1844 sowie einem Essay „Gedichte der Verweigerung und ihre Autoren“, ebenfalls von Hans-Günther Bressler. Der Band ist aufgelockert mit Fotos von Graffiti, und im Roman spielt Rap-Musik eine Rolle — beides Ausdruck jugendlicher Proteste. Im fünften Band, „Weben“, ist der Zweite Weltkrieg vorbei. Die vom Krieg unterbrochenen Beziehungen in Familie und Freundeskreis können wieder aufgenommen werden, das entsprechende Netz kann neu gewoben werden. Die Erzählung „Weben“ stellt die Briefdokumente vor und zeichnet Familiengeschichte nach. Sie ist mit zwei weiteren Texten verschachtelt, nämlich einem Theaterstück (der Autor nennt es eine Farce) sowie einer Krimi-Satire, welche beide das gesellschaftliche Leben mit all seinen Erscheinungen kritisch beleuchten. Indem Bressler Vorgängen in der Vergangenheit jene der Gegenwart sowie Privatem allgemeine Betrachtungen zur Seite stellt, arbeitet er Muster heraus: das Muster der Migration, der Rebellion, der Kommunikation, der Zugehörigkeit zu Familie, Nation, Partei. Dabei schöpft er aus einem ungewöhnlich grossen Schatz an Wissen, Bildung und Erfahrung als amtlich tätiger Jurist. Der Autor weiss offensichtlich viel darüber, „wie die Welt verschraubt ist“. Er hat davon abgesehen, die Familiendokumente als reines Sachbuch herauszugeben oder sie in Romanform zu verarbeiten, sondern die vorliegende Form gewählt, die aufeinen Dialog zwischen Dokumentiertem und Fiktion hinausläuft, was letztlich der Nachvollziehbarkeit hilft. Andreas Pritzker Rainer Bressler: Spur 1 Reisen, 2013; Spur 2 Spielen 2013; Spur 3 Schreiben 2013; Spur 4 Dichten 2014; Spur 5 Weben 2016. Alle erschienen beim Verlag BoD, Norderstedt (D). Juni 2018 91