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Ich empfehle mit Nachdruck, die Lektüre des Romans „Liebwies“ von Irene Diwiak erst auf Seite 11 zu beginnen. Obwohl ich selbst die wenigen Zeilen Prolog auf Seite 7 über die Dauer meiner Lektüre erfolgreich verdrängt hatte, wäre es noch besser gewesen, ich hätte den Roman erst begonnen mit dem Satz: „Die wahre Geschichte beginnt nämlich nicht mit der zauberhaften Gisela und auch nicht mit der langweiligen Ida.“ Die Schicksale dieser beiden Frauen im Laufe des Romans mitzuerleben, anstatt nur auf die Auflösung zu warten, wie die Handlungsstränge zum Abschluss zusammenfinden, würde meiner Meinung nach den Lesegenuss dieser mitreißenden Geschichte noch steigern. Der das Ende vorwegnehmende Prolog wird nicht ohne sorgfältige Überlegung der Autorin gesetzt worden sein und die Berechtigung dieser Entscheidung möchte ich ihr auch gar nicht absprechen. Denn der Roman ist mit beeindruckendem Handwerk konstruiert, dem man anmerkt, dass es über viele Jahre eingeübt, verfeinert, perfektioniert worden ist. Dadurch liest sich die selbstbewusste Prosa mit Leichtigkeit und gleichzeitiger Spannung: Ein Satz führt zum nächsten, enthält manch wohlklingende Überraschung — und wenn man über eine bewusst platzierte Dissonanz stolpert, muss man über den Diwiak gelungenen Witz lachen. Mit Wohlklang und Dissonanz spielt Diwiak nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich. Das Thema ist Musik, der Handlungsort Wien und Umgebung in der Zwischenkriegszeit. Doch obwohl die Qualität von Sprache und Textstruktur vom ersten Satz an klar sind, erweisen sich die Geschichte selbst zu Beginn des Buches sowie die erste Bekanntschaft mit den handelnden Figuren als irritierend: Der Kriegsveteran Walter Köck, der in seinem alten Leben Musiklehrer gewesen ist, überwindet seine Lebenskrise dadurch, dass er sich ein Zugticket kauft und aufs Land hinausfährt. Dass er kein Ziel hat, löst das Schicksal für ihn (und zwar das Schicksal, das keine unwichtige Rolle im gesamten Roman spielt und auf wundersame Art Einfluss auf dessen Verlauf nehmen wird): Ein zufällig an einem Bahnsteig stehender Junge erzählt Köck vom Dorf „Liebwies“. Ein Dorf, das so abgeschieden zwischen den Bergen liegt, dass es nicht einmal etwas vom Weltkrieg mitbekommen hat. Wie unrealistisch das ist, stört hier, hat man sich doch auf den ersten Seiten an einen konsequenten Realismus gewöhnt. Nachdem drei Kapitel lang vom frustrierten, aber auch als Charakter frustrierenden Köck, der inzwischen in Liebwies angekommen ist, gelesen worden ist, erscheint die erste bedeutende weibliche Figur: Die junge Karoline wird ganz unverhohlen als hässlicher, halb blinder, ungebildeter Bauerntölpel beschreiben. Dass sie aber wie durch ein Wunder mit unglaublichem musikalischem Talent und einer betörenden Singstimme gesegnet 92 ZWISCHENWELT ist, überrascht dann die, die „Schlafes Bruder“ von Robert Schneider kennen, nicht wirklich. Karoline gegenübergestellt wird ihre gegensatzliche Schwester, die betörend schöne, aber heillos dumme und gesanglich untalentierte Gisela. Köck möchte Karoline einem ehemaligem Bekannten, dem „Musikagenten“ Christoph Wagenrad, bei einem Konzert vorführen. Dass Köcks Einladung Wagenrad tatsächlich erreicht und dieser scheinbar problemlos das Dorf Liebwies findet, ist ein weiterer unrealistischer Punkt in der Handlung. Gisela eröffnet mit ihrer kraftlosen Stimme das Konzert, was Köck für einen schlauen Schachzug gehalten hat, um Karolines überwältigende Stimme noch mehr hervorzuheben, doch Wagenrad verliebt sich in Giselas Aussehen, das dem seiner verstorbene Frau ähnelt, einer berühmten und allseits angehimmelten Pianistin. Durch Giselas Anblick ist Wagenrad nun von der Trauer um seine Frau geheilt. Dem erwarteten Klischee folgend, nimmt er Gisela statt Karoline mit in die Stadt, wo sie in die Gesellschaft eingeführt und zum nächsten Opernstar ausgebildet werden soll. In Wien angekommen wird die nächste weibliche Figur, Wagenrads Haushälterin Emma, vorgestellt. Sie wird als hässliche, bösartige „Zwergin“ (im Text ohne Anführungszeichen) mit Buckel beschrieben. Daraufhin will man gekränkt mit der Frage, wie man so unsensibel schreiben kann, das Buch zur Seite legen, denn Frauen ausschließlich als Goldmarie oder Pechmarie zu beschreiben, als talentiert oder untalentiert, und wenn eine ein bisschen schlau ist, dann muss sie zur Kompensation aber eine hässliche böse Hexe sein — das hat man doch schon zu genüge in Grimm-Märchen oder Romanen von männlichen Autoren vorgesetzt bekommen. Aber das Buch wurde nicht nur wieder in die Hand genommen, weil eine Rezension zu schreiben war, sondern auch, weil der leise Verdacht bestand, Diwiak wüsste genau, was sie tue, und die bisherigen Darstellungen seien ein ungewöhnliches Stilmittel, so dass sich die Enttäuschung schon noch wandeln könnte. Und diese Wandlung lässt nicht lange auf sich warten: Nach dem unangenehm zu lesenden Zusammenleben der narzisstischen jungen Gisela und dem in sie verliebten alten Wagenrad, wechselt Diwiak erneut die Perspektive. Diesmal nicht in einem fast unbemerkbaren Übergang, bei dem Köck sowie das Dorf Liebwies für immer zurückgelassen werden, sondern mit einem Umbruch: Wie um es bei den unzufriedenen FeministInnen wiedergutzumachen begegnen wir nun einer völlig anderen Frauenfigur: Katharina Padinsky ist eine pragmatische Fabrikbesitzerin, die drei Kinder nicht um einer Familie willen bekommt, sondern um sich eine Nachfolge zu sichern. Die Geburt ihrer jüngsten Tochter (Ida, an deren Namen man sich von vor 100 Seiten erinnert) berührt einen jungen Geschäftsmann, dessen Unterredung bei Frau Padinsky durch deren Wehen unterbrochen wurde, weit mehr als die Mutter selbst. Mit ihrer Tochter Ida spricht Padinsky erst ein paar Jahre später zum ersten Mal, als sie diese gemeinsam mit den zwei älteren Brüdern in ihr Büro zitiert und die Notizen der Gouvernante über das bisherige Leben ihrer Kinder anschaut, um über deren Bildungswege zu entscheiden. Mit der Bitte der kleinen unscheinbaren Ida, Klavierunterricht nehmen zu dürfen, wird klar, wer eine weitere Hauptrolle im Roman übernehmen wird. Und nicht nur das, Ida wird sich zu einer großartigen, einer liebenswerten Figur entwickeln, die eine meisterhafte Komponistin wird (wenn auch ihr Aussehen auf der Schönheits-Skala beurteilt werden zu müssen scheint). Gisela und Ida finden auf unerwartetem Weg zusammen und gehen auf eine Reise, wie sie Patricia Highsmith in ,, The Price of Salt“ erzählte. Und damit bestatigt sich mit Erleichterung der zuvor gehegte Verdacht: Um dem Roman eine zweite Chance zu geben, miissen der als klischeehaft empfundene Inhalt des ersten Romanteils und die scheinbar völlig unreflektierten chauvinistischen Aussagen der auktorialen Erzählstimme vorerst als solche hingenommen werden. Es würde sich lohnen. Bis zur letzten Seite bleibt der Handlungsverlauf so fesselnd, dass man im Alltag oft an die Charaktere denken muss, wie es wohl weitergeht mit ihnen, und um dies herauszufinden in jeder freien Minute zum Buch greift. Am Schicksal einzelner Charaktere beginnt man so sehr Anteil zu nehmen, dass man sich für sie von Herzen ein Happy End wünscht, unabhängig davon, ob man den Prolog nun kennt, verdrängt oder - ich kann die Empfehlung nur wiederholen - überblättert hat. Maya Rinderer Irene Diwiak: Liebwies. Roman. Wien: Deuticke im Paul Zsolnay Verlag 2017. 336 5. € 16,99