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sich, wie dies dem Zeitgeist seit 1900 entsprach. Das Ausdeuten
des „Inkommensurablen“ ist es, was Zweig fasziniert.

Es fällt auf, wie in Zweigs Dämon-Reflexionen ein besonderer
Begriff hindurchscheint, die Zweig offenbar seit seiner Beschäfti¬
gung mit Hippolyte Taine vertraut war — die „facult€ maitresse“.'?
Zweig hat sich in seiner Dissertation von 1904 für diese Dimension
ganz besonders interessiert und beschreibt sie als das letztlich durch
„milieu“, „moment“ und „race“ nicht völlig Determinierbare, das
„Individuelle, Originelle, den Wesenskern“, als einen „inneren De¬
terminismus [...], gleichsam die Mechanik der inneren Ihatsachen
gegenüber den äußerlich wirkenden. [...] In ihrer Erkenntnis ist die
Erkenntnis des schöpferischen Gesetzes schon latent enthalten.”
Das letzte Kapitel „Die Kunstphilosophie“ in Zweigs Dissertation
ist denn auch ein Ausloten der methodischen Praktiken, Möglich¬
keiten und Grenzen der Genie-Analyse Taines. Trotz aller Reserven
Zweigs Taine gegeniiber ist dies aber eine Verbeugung vor Taine,
der „die wahrhaft incommensurablen Kunstschöpfer oder Schöp¬
fungen“”' letztlich nicht erklären konnte: Dies sei, so Zweig, Teil
von Taines eigener „facult& maitresse“. Aber Taine ist nur einer
der Gewährsleute, dem Zweig bei seiner biographischen Arbeit
verpflichtet ist. Zweigs Konstruktionsarbeit, sein „weiter Plan“
wird demnach von dem nicht nachlassenden Faszinosum des von
Vornherein als geheimnisvoll deklarierten Schöpferischen gespeist.
Schließlich reichten Zweigs Lebensspanne und -kraft nicht aus,
um den in offenbar manischen Phasen entworfenen gigantischen
Plan zu vollenden, hatte er doch auch noch die Absicht, etwa den
„klaren und architektonischen Geistern [...] Spinoza, Schiller
und vielleicht Voltaire“, „alle[n] Mystikern“ in den „entfernten
Epochen“, Michelangelo, den „Vorshakespearianer[n]“, „vielleicht
Villon“”, aber auch den sogenannten Dämon-Bändigern Gott¬
fried Keller und Conrad Ferdinand Meyer Bildnisse zu widmen.
Weiters bestand die Absicht, ein über das Porträt der Marceline
Desborde-Valmore”* hinausreichendes „Frauenbuch“ über Maria
Kowaleska und Rahel Varnhagen zu schreiben.”° Auch Goethe
stand in Debatte als einer der „großen Seher[] des Weltgebäudes“”®
gemeinsam mit Platon, Dante und Shakespeare.

Geistige Fundamente der drei Trilogien

In den genannten drei Trilogien spannte Zweig zwar einen weiten
thematischen, aber jeweils auf einem unterschiedlichen geistigen
Fundament ruhenden Bogen, den er mit einer zunehmend auf¬
gipfelnden, nicht unumstrittenen rhetorischen Praxis ausgestal¬
tete: Superlative, Hyperbeln, Parallelismen und Wiederholungen,
Chiasmen und Paradoxa, so als ob er einem aufmerksamen Lese¬
publikum nicht ganz trauen wiirde und diesem seine Botschaften
einhämmern möchte.

Wie dieser Generalbass, das Fundament und die Bausteine
des Denkraumes ausschauen und inwiefern dies Eigenständiges
darstellt und/oder diversen Denk- und Schreibtraditionen ver¬
pflichtet ist, wurde bereits angedeutet. Unschwer ist dies Zweigs
überaus bereitwilliger und variantenreicher Auskunftsfreudigkeit
über sein Forschungs- und Gestaltungs-Konzept zu entnehmen,
seinen zahlreichen Reflexionen?” und der immanenten Poetik
seiner Bildnisse, die - mit gutem Grund — immer nur auferge¬
wöhnlichen Exemplaren der menschlichen Gattung, gewisserma¬
ßen dem „höheren Menschen“, dem produktiven Subjekt, dem
Genie, gewidmet sind.

Dem schon seit langem bewunderten Honor de Balzac” ge¬
hört nicht zufällig der Beginn der ersten Trilogie „Drei Meister“
(1919/20). Nicht zufällig wohl auch deshalb, weil Zweig selbst
sogar ein „deutscher Romancier“ und nicht nur ein „Roman¬
schriftsteller“ sein wollte. Am Ende seines Lebens steht schließlich
der Roman-Kontinent Balzac” — ca. 520 Seiten. Gemeinsam mit
Dickens und Dostojewski reprasentiert Balzac — erstens — eine
der Auspragungen der ,, Typen der epischen Weltgestalter, die im
Kosmos ihres Romans eine zweite Wirklichkeit neben die schon
vorhandene setzen“?". Fasziniert von ihren Fähigkeiten, so ein¬
prägsame literarische Gestalten zu schaffen, dass man im realen
Leben sogar Balzac-Figuren, Dickens-Gestalten oder Dostojew¬
ski-Naturen entdecken kann, gehört dieser Geistesausprägung
chronologisch das erste Interesse Zweigs.

Der erste „biographische“ Zugang ist also der „Psychologie des
Romanciers“ gewidmet, den psychischen Gegebenheiten, dem
„innersten Gesetz“ und den literarischen Ausdrucksformen des
„im letzten, im höchsten Sinne [...] enzyklopadische[n] Genie[s],
de[s] universale[n] Kiinstler[s], der — hier wird Breite des Werkes
und Fülle der Figuren zum Argument [die Welt der Gesellschaft
bei Balzac, die der Familie bei Dickens, die Welt des Einen und
des Alls bei Dostojewski KM] — einen ganzen Kosmos baut, der
eine eigene Welt mit eigenen Typen, eigenen Gravitationsgesetzen
und einem eigenen Sternenhimmel neben die irdische stellt.“ (Drei
Meister, Einleitung 1919) Zweig will das jeweilige „Lebensgesetz“
und die individuelle „Lebensauffassung“ erforschen, wie sie sich
nach seiner Auffassung in der „Fülle seiner [des Romanciers KM]
Gestalten“ zeigen. Aber schon in dieser ersten Serie zeigen sich
Elemente seines Dämon-Denkens, das alle weiteren biographi¬
schen Erkundungen mehr oder weniger stark bestimmen sollte.

Ein paar Jahre später — 1925 — erscheint neuerlich eine Porträtserie,
wieder eine Trias von repräsentativen und genialischen Gestalten.
Es sind diesmal drei Deutsche, Friedrich Hölderlin, Heinrich von
Kleist und Friedrich Nietzsche, die Zweig als Beispiele der „We¬
sensform der von dämonischer Macht getriebenen tragödischen
Natur“! begreift. Zweigs zweiter Teil seiner Trilogien bringt nun
explizit und massiv seine Daimon-, Persönlichkeits- und Tragik¬
Überlegungen ins Spiel. Dies hat auch Auswirkungen auf die sich
zunehmend intensivierende Metaphorik von Zweigs Schreiben.
Diese zweite Trilogie stellt das philosophierende, Goethe??ge¬
schuldete und für fast alle anderen Bildnisse fruchtbar gemachte
Zentrum von Zweigs biographischen „Wesensschau“-Bemühungen
dar- ganz der sogenannten ideen- bzw. geisteswissenschaftlichen
Mode der Zeit verpflichtet.”

Es ist hier die Rede von Goethes erster Stanze seiner Urworte.

Orphisch (1817/1820):

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Grufse der Planeten,

Bist alsobald und fort und fort gediehen

Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.

So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;

Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.

Goethe kommentierte wie folgt: „Der Daimon bedeutet hier die
notwendige, bei der Geburt unmittelbar ausgesprochene, begrenzte
Individualität der Person, das Charakteristische, wodurch sich
der Einzelne von jedem Anderen bei noch so großer Ähnlichkeit

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