Beobachtungen zu einer „Typologie des Geistes“
Die biographischen Erkundungen, die Stefan Zweig seit etwa 1900
unentwegt und mit zunehmender stilistischer Versiertheit, theore¬
tischer Vertiefung sowie Fokussierung auf die jeweils spezifische,
hauptsächlich als genialisch gefasste Schöpfergestalt angestellt hat,
sind zahlreich und nötigen — noch immer — Respekt ab, unabhän¬
gig davon, mit welch großer Skepsis (z. B. S. Freud), kritischem,
oft ideologisch getränktem Eifer, ja unverhohlenem Hohn sie
beurteilt wurden (z.B. S. Kracauer, L. Löwenthal): Zu erinnern
sind Zweigs zahlreiche, „aus psychologischer Gestaltungsfreude“'
betriebene biographische Erkundungen etwa von Ephraim Mose
Lilien (1903), Arthur Rimbaud (1907), Emile Verhaeren (1910),
Lafcadio Hearn (1911), Jakob Wassermann (1912), Marceline
Desbordes-Valmore (1920, 1927), Romain Rolland (1921), Paul
Verlaine (1922), Lord Byron (1924), Marcel Proust (1925), Rainer
Maria Rilke (1927), Frans Masereel (1937) - ganz zu schweigen
von seinem Joseph Fouché (1929), der Marie Antoinette (1932),
des Erasmus (1934), der Maria Stuart (1935), seines Castellio und
Calvin (1936), des Magellan (1938) und des Amerigo (1942),
seines fragmentarisch gebliebenen Balzac-Nachlass-Konvoluts
(Nachlass 1946) und nicht zuletzt des Montaigne (1941/42).
Aber wie soll man dieses Genre nennen, das sich Zweig erarbeitete
und unablässig pflegte? Literarisch-essayistisches Porträt, Biofiktive
Skizze, Poetische Bio-Wesensschau als verhüllend-enthüllende
Selbst-Beschreibung, Literarische Mythographie, Literarisch¬
psychologische Fallgeschichte oder schlichtweg Poetische Gestalt¬
Imagination?
Dass er schon seit vor dem Krieg — wohl angeregt von seinem
Vorbild Romain Rolland (1866-1944)°- mit dem Gedanken
spielte, herausragende Persönlichkeiten des literarischen und in¬
tellektuellen Lebens aus verschiedenen Nationen, Epochen und
Kulturen seit dem 18. Jahrhundert in einem Zyklus oder in meh¬
reren zyklischen Kompositionen darzustellen, praktiziert Zweig
schließlich in der „einem gemeinsamen Plane“? gehorchenden
Trilogie „Drei Meister“ (1919/20: Balzac, Dickens, Dostojewski),
weiters in seinem zentralen und weit in sein sonstiges literarisches
Schaffen ausstrahlenden „Der Kampf mit dem Dämon“ (1925:
Hölderlin, Kleist, Nietzsche) sowie in seinen „Drei Dichter[n]
ihres Lebens“ (1928: Casanova, Stendhal, Tolstoi).
„Je drei schöpferische Gestalten“? als typische Repräsentanten
jeweils „innerster“ Lebensgesetze „in ihrer verborgenen Einheit“
hat er im Visier. „Sublimierung, Kondensierung, Extrakt [...] nur
das persönlich als wesentlich Empfundene zur Erkenntnis“ will er
vermitteln. Diese insgesamt neun Porträts Zweigs sind hauptsäch¬
lich aus den literarischen Werken der Genannten heraus entwickelt
und im Bewusstsein verfasst, dass, wer „Geschichte verstehen
will [...] eine besondere Art des Lauschens, des sich Tief-in-das¬
Geschehnis-Hineinhorchens besitzen“ müsse. „Geschichte [muß]
bis zu einem gewissen Grad immer etwas Gedichtetes sein“, so
heißt es bei Zweig. Der „Baumeister“-Zyklus ist gewissermaßen
ein Labortest seines biographischen Erkundens und Konstruierens:
Das bloße Stoffzusammentragen ergibt nur Widerspruch, ein gewis¬
ser synthetisch verbindender Blick war immer notwendig und wird
es immer sein. |...] Und vielleicht darf ich mich sogar noch kühner
ausdrücken und sagen: es gibt vielleicht überhaupt keine Geschichte
an sich, sondern erst durch die Kunst des Erzählens, durch die Vision
des Darstellers wird das bloße Faktum zur Geschichte; jedes Erlebnis
und Geschehnis ist im letzten Sinne nur wahr, wenn es wahrhaft
und wahrscheinlich berichtet wird. Es gibt an sich kein eigentlich
großes und kein eigentlich kleines Geschehen, sondern nur lebendig
gebliebenes und abgestorbenes, nur gestaltetes und vergangenes.®
Zweig wandte sich — trotz oder gerade wegen des gegen ihn
erhobenen Vorwurfs eines subjektivistischen, bildungsbürgerlichen
Blicks — explizit gegen jene „übliche ‚biographie romancee‘, das
heißt die zu einem Roman umgarnierte Lebensdarstellung, wo
Wahrhaftes mit Erfundenem, Dokumentarisches mit Geflun¬
kertem sich gefällig vermischt, wo große Gestalten und große
Geschehnisse aus einer privaten Psychologie beleuchtet werden
statt aus der unerbittlichen Logik der Geschichte.“? Die drei Zu¬
sammenstellungen von jeweils drei genialischen Männer-Typen
bzw. Zweigs literarisch-“malerische“ Gestaltungen von „Formen
des Geistes“, und zwar im „Literarisch-Charakterologischen“'"
und eben gerade nicht im „Biographisch-Historischen“, wollte
er Mitte der 1930er Jahre, schon im Exil, weitergeführt schen.
Dies schien dem begeisterten Historio- und Biographen sowie
Psychologen offenbar so attraktiv und — wohl angesichts der für
ihn bedrohlichen „Monotonisierung der Welt“ (NFP 31.1.1925)
—so dringlich, dass er auch seine vierte, 1931 erschienene Trilogie
„Die Heilung durch den Geist“ (1931: Franz Anton Mesmer,
Mary Baker-Eddy, Sigmund Freud; immerhin fast 400 Seiten)
in dieses Konzept eingeordnet schen wollte. Sogar eine weitere
Trilogie, nämlich „Drei Frauen“', beabsichtigte er auszuarbeiten.
Aber leider wurde sie nie verwirklicht. Gerade wegen Zweigs
traditioneller Stereotypie im Gender-Diskurs wäre das besonders
interessant gewesen.
Stefan Zweig, der Kenner (H.-Taine-Dissertation 1904) und
zugleich Kritiker Hippolyte Taines (1828-1893)'?, ein Leser
Thomas Carlyles, ein Bewunderer Plutarchs (ca. 45 — ca.125),
Charles-Augustin Sainte-Beuves (1804-1869) und nicht zuletzt
Sigmund Freuds (1856 — 1939)", hat insbesondere den in ent¬
götterter Zeit gewissermaßen entgöttlichten „Genius“'‘, das ewig
und gefährdete „Schöpferische“ im Visier. Er will aber nicht wer¬
tend'’ vorgehen, keine „Formeln des Geistigen“'° suchen oder
gar „Systeme im Schöpferischen“'” konstruieren. Von Taine und
Plutarch leiht er sich die vergleichende, die den Figuren jeweils
gegenseitig Licht spendende Methode und von Sainte-Beuve die
essayistische Porträt-Kunst'°, von Freud die neuen, attraktiven
und von Zweig sparsam eingesetzten psychologischen Thesen und
Denkfiguren. Dabei lässt er den Determinismus Taines hinter