zweifeln? (...) Schnell, füllt den ‚Auswanderungs¬
fragebogen‘ aus und macht euch auf die Suche
nach Verwandten oder Bekannten, die euch ein
Afhıdavit ausstellen oder sonst wie helfen kön¬
nen, aus dem Land zu kommen, will ich ihnen
zurufen.“ Und dann folgt: „Ich weiß ja, wie es
weiterging.“ Ihr Urgroßvater Paul wird am 19.
Oktober 1938 von der Gestapo verhaftet und
ins KZ Buchenwald deportiert. Im Juni 1939
wird er entlassen, mit ausgeschlagenen Vorder¬
zähnen und kahlrasiertem Schädel, zitternd vor
Angst. „Als ihm auf dem Weg zum Bahnhof
ein Windstoß den Hut vom Kopf wehte, lief er
ihm weinend nach“, erinnert sich seine Tochter
Helga. Zwei Tage später flüchtet er nach Genua.
Dort soll ihn ein Schiff nach Shanghai weiter¬
bringen, doch er wird betrogen, denn das Schiff
existiert nicht. Bis 1944 sitzt er in Italien fest
und wird dann ins KZ Auschwitz deportiert. Er
überlebt, da er Arzt ist, kehrt aber nach 1945
als psychisches Wrack zurück.
Von welchen Zufällen das Überleben für Hel¬
ga und Hansi abhängt, lässt einen staunen. So
kommt Helga im Oktober 1944 auf eine Liste
für den „Arbeitseinsatztransport“ in den Osten.
Die Menschen in Theresienstadt wissen noch
nichts über die Vernichtungslager, ahnen jedoch
Schlimmes. Helga muss sich frühmorgens in
der Halle einer der ehemaligen Theresienstädter
Kasernen melden. 2000 Menschen sind dort
versammelt. Sie bekommt die Transportnummer
1680 und muss lange warten. Schließlich nimmt
sie ihr Gepäck von den Schultern, die Luft ist
schlecht, sie hat Hunger, SS-Männer treiben
die Wartenden an, und fortwährend laufen
Menschen kreuz und quer, auf der Suche nach
Angehörigen oder ihrem Gepäck. Gegen Abend
beschließt Helga, sich aus der Halle in einen
Nebenraum zu schleichen, um sich auszuru¬
hen. Dort schläft sie ein. Als sie erwacht, sind
die Deportationszüge abgefahren. Daraufhin
meldet sie sich bei der Lagerverwaltung. Dort
heißt es, dies sei kein Problem, denn es gibt bald
einen nächsten Transport. Da wiederholt sich
der Vorgang, und Helga entgeht ein weiteres Mal
der Deportation. Dann gelingt es ihrer Mutter,
für Helga eine Bestätigung zu erhalten, dass
sie im Lager bei der Feldarbeit unersetzlich sei.
Bald danach, am 28. Oktober 1944, verlässt der
letzte Zug Theresienstadt Richtung Auschwitz.
Auch Hansi kommt einmal nur ganz knapp
davon. Er verfügt über eine Pistole, die zuvor
Pepi waghalsig einem Wehrmachtsoffizier ge¬
stohlen hat. Beide treffen Anfang 1945 in einer
dunklen Winternacht auf eine Wehrmachts¬
streife. Hansi läuft davon, trifft auf eine weitere
Streife. Diese Soldaten wollen ihn festhalten,
er reißt sich los, wird verfolgt, und Hansi zieht
die Pistole und schießt. Die Soldaten feuern zu¬
rück. Aber es gelingt ihm zu entkommen. Doch
während des Gerangels mit den Soldaten hat er
den Wohnungsschlüssel verloren. „‚Zum ersten
Der Klagenfurter Hermagorasverlag hat seit
Mitte der 1990er Jahre eine Reihe von Bü¬
chern in slowenischer und deutscher Sprache
herausgebracht, die sich mit den Schlachten am
Isonzo, slowenisch Soca, befassen. Das jüngst
erschienene Buch Das Gedächtnis des Krieges
geht etwas andere Wege, als wir von der histo¬
rischen Darstellung des Kriegsgeschehens im
Karst gewohnt sind.
Die Autorin Marija Juri¢ Pahor ist Soziologin
mit Forschungsschwerpunkten im Bereich der
Kultur- und Sozialanthropologie. Sie ist Karnt¬
ner Slowenin, lebt seit mehr als dreißig Jahren
in Iriest und arbeitet am Institut für Nationa¬
litätenfragen in Ljubljana. Schon diese Eckda¬
ten ihrer Biographie zeigen den unmittelbaren
Bezug zu dem Regionalraum, von dem die hier
besprochene Monographie handelt. Die poly¬
glotte Autorin ist über ihre Profession hinaus
eine profunde Kennerin sowohl der politischen
und sozialen Geschichte als auch der Literaturen
dieses Raumes.
Ausgangspunkt der Darstellung ist ihre lang¬
jährige praktische und theoretische Beschäfti¬
gung mit Fragen des Gedächtnisses und der
Erinnerung, wobei sie der traumatischen Erin¬
nerung eine besondere Bedeutung beimisst. Von
ihr aus hinterfragt die Autorin jene Ihesen, die
die Gewalterfahrung des Ersten Weltkriegs und
die durch sie hervorgerufene „Brutalisierung“
als die entscheidende Voraussetzung für den
Aufstieg von Faschismus und Nationalsozia¬
lismus betrachten. Die ersten Nachkriegsjahre
waren nämlich v.a. von der Verdrängung dieser
Erfahrung und der Verleugnung ihrer psycho¬
physischen Auswirkungen geprägt. Traumatisier¬
te galten oft als „pflichtvergessene Schädlinge“
(Zitat Wagner-Jauregg). Die ungeschönte Dar¬
stellung der Kriegswirklichkeit, wie wir sie aus
der sog. Antikriegsliteratur kennen, erscheint
dagegen im allgemeinen Furor der Neuordnung
Europas und der sozialen Misere nach dem Krieg
als ein Kampf auf verlorenem Posten.
Genau in diesem Bereich schafft das vorlie¬
gende Werk Evidenz. Sein großes Verdienst ist,
dass es ein Korpus von Erinnerungsliteratur aus
den Kriegstagen zugänglich macht, anhand des¬
sen die Realität des Krieges und seiner sozialen
Folgen aus der Sicht der auf den verschiedenen
Seiten Kämpfenden gezeigt wird. Darüber hi¬
naus aber erhalten wir einen tiefen Einblick in
die Existenzbedingungen einer von Nationali¬
tätenkonflikten zerrissenen Region. Aus regio¬
nalgeschichtlicher Perspektive rückt diese Arbeit
Grenzräume ins Zentrum, die im Kampf um
die Nachkriegsordnung Objekte weltpolitischer
Entscheidungen waren. Demgegenüber werden
die beteiligten Akteure, die als Frontsoldaten in
Mal allein ohne Pepi. Ein unbeschreibliches Ge¬
fühl eines unwiederbringlichen Verlusts erfasste
mich.‘ Er hat Angst“, schreibt Anna Goldenberg.
Doch auch Pepi konnte entkommen, und sie
finden sich wieder.
Pepi hat eine tiefgehende Beziehung zu Hansi,
und er wird Hansi nach der Befreiung von der
NS-Terrorherrschaft adoptieren. Anna Golden¬
berg spannt die Geschichte ihrer Großeltern bis
in die Gegenwart. Helga geht auch im hohen
Alter noch als Zeitzeugin in Schulen, Hansi
hat sie leider nur mehr als Kind kennengelernt.
In der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem
gibt es keinen Baum für Josef „Pepi“ Feldner.
„Er hätte das unter keinen Umständen gewollt“,
sagt Hansi. „Das, was er getan hatte, war für ihn
selbstverständlich. Und wieso sollte man ihn da¬
für ehren, nicht das Falsche getan zu haben?“ Ein
Baum in Jerusalem könnte das nicht erklären,
schreibt Anna Goldenberg und setzt fort: „Pepis
Andenken lebt. Er hat sechzehn Nachfahren, in
denen er tief verwurzelt ist.“
Und eine dieser Nachfahren hat sich der
Aufgabe gestellt, ein Buch über ihn und ihre
Großmutter zu schreiben. Es ist ein kluges und
wichtiges geworden!
Martin Krist
Anna Goldenberg: Versteckte Jahre. Der Mann,
der meinen Großvater rettete. Wien: Paul Zsolnay
Verlag 2018. 192 S. € 20,60
den Krieg gingen oder sonst an den nationa¬
len Auseinandersetzungen beteiligt waren, als
Subjekte mit ihren eigenen Motivationen und
Interessen begreifbar.
Knapp das erste (thematisch gegliederte)
Drittel des Buches ist der Perversion des Stel¬
lungskrieges im Karst, neuen Kriegstechniken
(z.B. dem Einsatz von Giftgas), Kriegsneurosen
gewidmet. Die folgenden Abschnitte befassen
sich mit dem Vorkommen von Krieg und
Kriegstraumata in Liedtexten, Lyrik und Prosa
der Kriegs- und Zwischenkriegszeit sowie mit
den Geschehnissen in Kärnten vor und nach
der Volksabstimmung 1920.
Der felsige Karst eignete sich überhaupt nicht
für den Grabenkrieg, weil keine Schützengrä¬
ben angelegt werden konnten; oft wurden die
Toten zu Schutzwällen aufgestapelt und mit
Kalk überschüttet. Auf italienischer wie auf ös¬
terreichischer Seite wurden die Soldaten sinnlos
verheizt. Aus den zitierten Texten gehen auch
die physischen Torturen, Erniedrigungen und
brutalen Maßregelungen hervor, die gängige
Praxis in der österreichischen Armee waren.
Dass ein erheblicher Teil der im Rahmen
dieser Arbeit zitierten Erinnerungstexte von
Slowenen stammt, hat seinen Grund u.a. da¬
rin, dass im Ersten Weltkrieg nirgends so viele
Slowenen zum Einsatz kamen wie hier; über