jüdischen —, die das eroberte Polen führungslos machen sollte (vgl.
Wildt 2008: 146-147). Ebenfalls ein Verbrechen aus militärischer
Ratio. Ist der Holocaust rational erklärbar? Nachdem die Nazis
die Juden verleumdet, entrechtet, ihres Vermögens und ihrer
Lebensgrundlage beraubt hatten, hätten sie da noch innehalten,
umkehren können? Reichskommissar Bürckel schrieb 1938: „Will
man arisieren und dem Juden seine Existenzgrundlage rauben,
dann muß man die Judenfrage total lösen. Ihn nämlich als Staats¬
rentner betrachten, das [...] ist unmöglich“ (zit. nach Safrian
1995: 36). Allerhand Aussiedlungspläne wurden gewälzt, sogar
nach Madagaskar wollte man die Juden schaffen: „Die Juden
sind uns wegen unseres Rassenstandpunktes feindlich gesinnt.
Wir können sie daher nicht im Reich brauchen. Wir müssen sie
beseitigen“, begründete der Chef des Reichssicherheitshauptamts
Reinhard Heydrich 1940°. Fast 100 Ghettoaufstände von Lodz
bis Warschau zeigen, dass man die Juden nicht ewig einsperren
und bewachen konnte (vgl. Schoeps, Bingen, Botsch 2016: 4).
Auch die Aus- und Umsiedlungspläne waren freilich Pläne zum
Genozid (vgl. Aly 1995: 33-35). Als sie scheiterten, begann der
industrielle Mord in den Vernichtungslagern. Was mit politischer
Hetzpropaganda begonnen hatte, endete mit der „Endlösung“.
Aber genügt es darzustellen, welches grauenvolle Ergebnis die
Politik der Nazis für die verschiedenen „Opfergruppen“ hatte?
Was Jdenterest ist, wird erst klar, wenn man auch die Folgen für
diejenigen betrachtet, denen man gesagt hatte, dass sie die Her¬
renrasse seien. Entrechtet waren nicht nur die Juden. Entrechtet
waren alle Menschen im Herrschaftsbereich der Nazis. Die bür¬
gerlichen Freiheiten: Redefreiheit, Pressefreiheit, Informations¬
freiheit, Versammlungsfreiheit, Koalitionsfreiheit und so weiter
waren allen genommen worden, es gab keine Freiheit der Kunst
und keine Freiheit der Wissenschaft. Eine Jugendkultur abseits
der Hitlerjugend durfte es nicht geben. Jugendliche, die sich
lässig kleideten, fürs Exerzieren nichts übrig hatten und statt
Marschmusik lieber Swing hörten — die „Swing-Jugend“ oder
„Schlurfs“ - wurden von der Gestapo, der Kriminalpolizei und der
Fürsorge verfolgt. Ab 1943 war übrigens nicht nur Swing-Tanzen,
sondern Tanzen generell verboten (vgl. Rathgeb 2003: 134-140).
Ab 1938 verschlechterte sich der allgemeine Lebensstandard in
Deutschland wieder. Die Löhne wurden zwar nicht gekürzt, aber
es gab nicht viel zu kaufen, Lebensmittel waren rationiert, das
Geld landete auf Sparkonten, die das Regime insgeheim plünderte
(vgl. Wildt 2008: 153). Jede Kritik am Regime, insbesondere
Zweifel am Sieg der deutschen Truppen konnte bestraft werden,
„versuchter Hochverrat“ mit dem Tod (vgl. Wildt 2008: 161-162).
Jeder sollte jeden bespitzeln, selbst Kinder ihre Eltern. Unter
den ersten Opfern der Nazi- Ausrottungspolitik waren ja auch
„reinblütige Arier“ — die Behinderten, unheilbar Kranken. Sogar
schwerverwundete Soldaten des Polenfeldzugs waren unter den
Ermordeten (vgl. Heinsohn 2000: 413). Und schließlich waren
fünf Millionen deutscher Soldaten getötet, eine halbe Million
Menschen unter Bomben gestorben, hatten vierzehn Millionen
Deutsche ihren Besitz ganz oder teilweise verloren, lagen fünf
Millionen Wohnungen in Trümmern (vgl. Wildt 2008: 207).
In „Erziehung nach Auschwitz“ sagte Theodor W. Adorno:
„Schlechterdings jeder Mensch, der nicht gerade zu der verfol¬
genden Gruppe dazugehört, kann ereilt werden; es gibt also ein
drastisches egoistisches Interesse, an das sich appellieren ließe“
(Adorno 2012: 135). Doch ein drastisches egoistisches Interesse
gibt es auch daran, sich zu fragen, ob es sich wirklich lohnt, sich
den Verfolgern anzuschließen. Kein Zweifel: Für nicht wenige
hat es sich trotz allem gelohnt. Viele haben ihre Posten, in die
sie auf Grund der Entfernung der jüdischen Konkurrenz aufge¬
stiegen waren, auch nach dem Krieg behalten — an Universitäten,
in der Justiz, in der Verwaltung und so weiter. Viele konnten
ihre arisierten Wohnungen oder Geschäfte behalten. Aber die
Mehrheit der Mitläufer und Mitläuferinnen, der Wegschauer und
Wegschauerinnen, waren letzten Endes — auch wenn das nicht
als Entschuldigung gelten kann — doch Betrogene. Sie haben ein
Stück ihrer Menschlichkeit verkauft und dafür nichts bekommen.
Aus all dem folgt: Antisemitismus muss bekämpft werden, nicht
einfach nur, um Juden zu schützen. Antisemitismus muss bekämpft
werden, um die Demokratie zu schützen, den Frieden zu schützen,
Bestrebungen nach sozialer Gerechtigkeit nicht zu hintertreiben.
Und dasselbe gilt für die Bekämpfung von Antitsiganismus, An¬
tiislamismus, Fliichtlingsphobie und so weiter.
Aufklärung über Antisemitismus wird politisch nicht viel be¬
wirken, wenn sie nicht in Zusammenhang mit heute virulenten
Formen des Rassismus und Nationalismus gebracht wird. Und
da stehen derzeit Islamfeindlichkeit und Flüchtlingsphobie im
Vordergrund. Wobei man statt Rassismus besser /denterest sagen
sollte, denn die Unterscheidungen werden nicht nach Rassen
getroffen, sondern nach „Kulturen“ (obgleich das Anderssein kraft
Geburt doch zumindest unterschwellig mitschwingt). Parolen
wie „Daham statt Islam“ oder das kürzlich bekanntgewordenen
Plakat des steirischen RFJ oder die Sorge Norbert Hofers, dass
sich Österreich „zu einem Land mit muslimischer Mehrheit ent¬
wickelt“ (vgl. Die Presse 2019) richten sich ja gar nicht gegen
den politischen Islam, sondern gegen Menschen, die nicht den
richtigen Taufschein haben. Die rechte, nationalistische Dema¬
gogie hat gar kein Interesse daran, den faschistischen Charakter
des politischen Islam aufzuzeigen. Zu leicht könnten da Parallelen
gezogen werden. Nein, der Islam wird als das Fremde schlechthin
dargestellt, und Angehörige der Religion unter Generalverdacht
als Terroristen gestellt.
Es gibt tausende Trennlinien, die man durch eine Gesellschaft
ziehen kann - zwischen JüdInnen und NichtjüdInnen, MuslimIn¬
nen und NichtmuslimInnen, BrillentragerInnen und Nichtbril¬
lenträgerInnen. Man könnte aber auch eine Trennungslinie quer
durch die Religionen ziehen: zwischen FundamentalistInnen und
Liberalen. Oder quer durch die Parteien zwischen FanatikerInnen
und Diskussionsbereiten. Oder zwischen reich und arm. Oder
zwischen mächtig und - sagen wir— weniger mächtig. Die Frage
ist nicht, welche Trennlinien „richtig“ sind. Die Frage, die gestellt
werden muss, ist: Wer erklärt welche Irennlinien für bedeutsam
und warum und wozu? Natürlich sollen wir uns fragen: Ist der
Unterschied zwischen dir und mir wirklich so groß? Natürlich
sollen wir Empathie für das Leid der Geflüchteten schaffen. Aber
wir müssen auch nach der Funktion fragen. Die primitive Glei¬
chung Ausländer = Moslem = nicht integrationswillig, patriarchalisch
und gewaltbereit bewirkt unter anderem, dass fast niemand auf
die Idee kommt, die Tatsache in Frage zu stellen, dass fünfzehn
Prozent der über Sechzehnjährigen in Österreich nicht wählen
dürfen, weil sie keine Staatsbürger und Staatsbürgerinnen sind.
Menschen, die zum größten Teil arbeiten und Steuern zahlen
oder lernen und studieren. Und von denen die größte Gruppe
übrigens Deutsche sind (vgl. Medien-Servicestelle 2017). Die
Frage ist nicht nur: Ist das gerecht? Sondern auch: Ist das gut
für unsere Demokratie? Der Zuzug ausländischer Arbeitskräfte