drückt auf die Löhne (vgl. Schwaiger 2016). Doch dient die
Propaganda gegen diesen Zuzug wirklich dem Schutz der inlän¬
dischen ArbeitnehmerInnen, oder soll sie bloß erschweren, dass
in- und ausländische ArbeitnehmerInnen sich gemeinsam zur
Wehr setzen? Unter dem Vorwand, es gehe um die, „die erst kurz
ins System einzahlen und sich ‚durchschummeln‘ wollen“, soll
die Notstandshilfe abgeschafft werden. Doch zum größten Teil
würde das österreichische StaatsbürgerInnen und ältere Menschen
treffen (vgl. Vienna.at 2018).
Doch Islamfeindschaft und Flüchtlingsphobie sollen die Euro¬
päerInnen auch gegen einen äußeren Feind zusammenschließen.
Das kommt im Diskurs von „Flüchtlingsströmen“ und „Flücht¬
lingskrise“ zum Ausdruck, in den Warnungen vor „Islamisierung“
und „Bevölkerungsaustausch“ oder in der AfD-Parole: „Damit
Europa kein Eurabien wird!“ (vgl. Krupa, Ladurner, Rau 2019).
Wenn ein FPÖ-Wehrsprecher fordert, man müsse in Nordafrika
„mit militärischen Kräften einen Raum in Besitz nehmen“ um
dort Anlande-Plattformen für Flüchtlinge einzurichten (vgl. Der
Standard 2018), dann ist das nicht die Phantasie eines patholo¬
gischen Militaristen. Im Dezember 2017 hat die EU nach langer
Vorbereitung PESCO gegründet, die Permanent Structured Co¬
operation auf militärischem Gebiet. Dieses Bündnis verpflichtet
alle Mitglieder — auch Osterreich — zur Aufrüstung (vgl. Bonvalot
2018). In einem Strategiepapier des European Union Institute
for Defence Studies heißt es über die Interessens-sphäre Europas:
In particular, Europeans should focus on improving their ability
to temporarily project and even permanently extend their armed
forces into the EUs geographic zones of privileged interest. [...] the
Caucasus, the Wider North, the Middle East and North Africa — and,
importantly, the regions bordering with them, from Sub-Saharan
Africa to Central Asia and the Indo-Pacific (Missiroli 2013: 32).
Aber auch offensive militärische Operationen werden in Erwä¬
gung gezogen, zum Beispiel „um einen Bürgerkrieg in Zentralaf¬
rika zu beenden“ oder um „ein aggressives Regime im weiteren
Nahen Osten in die Schranken zu weisen“ (Missiroli 2013: 33).
Der politische Islam ist real und gefährlich. Aber sollte Europa
jemals Krieg um Öl führen, wird sich das leichter rechtfertigen
lassen, wenn es unter der Flagge des Kampfs gegen den politischen
Islam geschicht.
In der 2016 beschlossenen Global Strategy for the European
Union’ Foreign And Security Policy wird klar gesagt, worum es geht:
„[...] ensuring open and protected ocean and sea routes critical for
trade and access to natural resources“ (European Union 2016: 41).
Und da miissen wir uns alle die Frage stellen: Wollen wir das?
Wollen wir Krieg führen um Handelsrouten und Rohstoffe? Wie
war das nun mit dem letzten Krieg?
Ist es also so, dass die mächtigen Eliten Europas den Rassen¬
hass schüren, um uns auf einen neuen Krieg vorzubereiten? So
einfach ist es natürlich nicht. Im Standard hat der Politologe
Hans Vorländer kürzlich die jüngsten Vorgänge in Chemnitz
mit einem Opfernarrativ erklärt: Die Zerstörung Dresdens im
Krieg, die Abwicklung der Betriebe nach dem Ende der DDR,
die Abwanderung der Agileren und Mobileren in den Westen,
all das hätte zu einer latenten Kränkung geführt, die sich dann
auf der Straße äußere (vgl. Baumann 2018). Damit hat er den
Boden beschrieben, auf dem die Saat des Hasses gedeihen kann.
Doch es braucht auch noch jemand, der aktiv den Hass sät. Das
sind in diesem Fall die political entrepreneurs der AFD. Und dann
gibt es die, die die political entrepreneurs aus dem Hintergrund
finanzieren. Und dann die, die sie einfach nur gewähren lassen.
Die vielleicht eindämmen, aber nur halbherzig. Die nichts tun,
um den Bürgern ihre irrationalen Ängste zu nehmen, indem
sie für Aufklärung sorgen. Die nichts dagegen haben, dass all die
Stereotypen über primitive Afrikaner, die verbreitet werden, es
gewissermaßen als gerechtfertigt erscheinen lassen, dass Afrika
abhängig bleiben soll als Lieferant billiger Rohstoffe und Abnehmer
teurer Industriewaren. Nichts tun, wenn man etwas tun könnte,
auch das ist Machtausübung.
Solche Zusammenhänge zu diskutieren - heißt das nicht, sich
allzu weit vorzuwagen? „Aller politische Unterricht endlich sollte
zentriert sein darin, dass Auschwitz nicht sich wiederhole“, hat
Adorno gefordert. „Dazu müsste er in Soziologie sich verwandeln,
also über das gesellschaftliche Kräftespiel belehren, das hinter der
Oberfläche der politischen Formen seinen Ort hat“, und zwar:
„ohne Angst, bei irgendwelchen Mächten anzustoßen“ (Adorno
2012: 135).
Es genügt nicht, dass junge Menschen unterschiedlicher Identitä¬
ten einander kennenlernen und falsche Vorstellungen voneinander
abbauen. Sie müssen sich ernstlich mit der Frage auseinander¬
setzen: „Geht es mir besser, wenn es dir schlechter geht?“ Die
Jugendlichen müssen sich fragen, ob sie gemeinsame Interessen
haben, nämlich existenzielle Interessen, nicht nur Hobbys und
Musikgeschmack. Wer profitiert wirklich, wenn eine oder einer
von uns benachteiligt, entrechtet wird? Wem nützt es, wenn du
und ich nicht in derselben Gewerkschaft, in derselben Partei tätig
sein sollen? Was droht dir und mir in einem Staat, in dem die
Menschenrechte nicht gelten? Welche Konsequenzen hat es für
dich und mich, wenn die Demokratie eingeschränkt wird? Ist es
für mich gut, wenn du kein Wahlrecht hast? Können wir globale
Probleme wie den Klimawandel, die Verschmutzung der Meere
oder das weltweite Artensterben lösen, wenn die Völker, Staaten,
Kulturen oder was auch immer gegeneinander statt miteinander
arbeiten? Muss Afrika wirklich arm bleiben, damit Europa reich
bleibt? Müssen wir Krieg um Öl führen, oder können wir uns vom
Öl unabhängig machen? Und: Könnte ich die oder der nächste
Verfolgte sein? Oder kann mir nichts passieren, weil ich ja nicht zu
denen gehöre? Nur wenn Menschen ihre gemeinsamen Interessen
erkennen, haben sie auch ein Interesse daran, einander vorurteilslos
zu begegnen, anstatt einander zu bekämpfen.
Martin Auer, geb. 1951 in Wien. Sieben Jahre Schauspieler, Drama¬
turg und Musiker am „Theater im Künstlerhaus“ Hat dann eine Band
gegründet. Ist als Liedermacher aufgetreten. Hat Gitarreunterricht
gegeben. Die Weltrevolution vorbereitet (gratis). Als Texter für Werbung
und Public Relations Übertriebenes, Unwahres und Einseitiges ver¬
breitet (für Geld). Für Zeitungen gearbeitet. Sich zum Zauberkiinstler
ausgebildet. Ist bei Betriebsfesten und Kindergeburtstagen aufgetreten.
Hat irgendwann einmal auch ein Kinderbuch geschrieben — 1986
veröffentlicht. Seither betrachtet er sich als Schriftsteller und hat aus
diesem Grund über vierzig weitere Bücher geschrieben, davon ca. zwei
Drittel für Kinder. Seine Bücher wurden mit verschiedenen Preisen
ausgezeichnet. 2005 wurde ihm für Verdienste um die Republik
Österreich der Berufstitel Professor verliehen, was er ehrend, aber
auch irgendwie lustig findet. Seit 2016 studiert er an der Universität
Wien Kultur- und Sozialanthropologie.