Am 8. Februar 1874 erblickte Otto Glöckl das Licht der Welt
im Schulhaus in Pottendorf in Niederösterreich, wo sein Vater
unterrichtete. Otto Glöckel war somit seit seiner Geburt mit
Schülern und Lehrern konfrontiert. Auch er wurde Lehrer. Nach
der Ausbildung in der Lehrerbildungsanstalt in Wiener Neustadt
begann er 1982 als Unterlehrer in Wien.
In seiner Selbstbiographie beschreibt Glöckel die katastrophalen
sozialen Verhältnisse und repressiven Unterrichtsmethoden, deren
Zeuge er als Lehrer wurde. Die Kinder kamen oft müde und hungrig
in die Schule. Die Klassen waren überfüllt. Disziplinierung mit
dem Stock war keine Seltenheit. Die Kirche hatte große Macht und
Einfluss auf die Erziehung. Die Kinder wurden zur Religionsaus¬
übung gezwungen, wer die religiösen Rituale missachtete, wurde
mit Sanktionen belegt, z.B. bekamen die Buben keine Lehrstellen,
wenn sie nicht zur Beichte gingen. Schon früh fand sich Glöckel
mit anderen Lehrern zum Protest gegen diese Verhältnisse zusam¬
men und trat für einschneidende Veränderungen ein. Er war ein
Lehrer, der die Schüler so weit als möglich unterstützen wollte,
sich gemäß ihren Neigungen und Talenten unabhängig von ihrer
sozialen Herkunft zu entwickeln, und setzte sich vehement für die
Trennung von Staat und Kirche ein.
1897 wurde er vom Bürgermeister Karl Lueger wegen seiner
sozialdemokratischen Gesinnung und seinen schulpolitischen
Forderungen fristlos entlassen. Das war ein harter Schlag für den
leidenschaftlichen „Unterlehrer“ mit großen Visionen. Einige
Jahre musste er sein Dasein mit Beschäftigungen außerhalb des
Bildungswesens fristen. Bei den Wahlen 1907 und wurde er zum
Reichratsabgeordneten gewählt. Bis 1934 blieb er Abgeordneter
der sozialdemokratischen Partei im Parlament.
Mit dem Zusammenbruch der Monarchie und der Geburt der
Ersten Republik 1918 eröffnete sich die Chance für eine große
Schulreform, die Otto Glöckel energisch anpackte. Von April
1919 bis Oktober 1920 war Otto Glöckel erster Unterrichtsmi¬
nister (Unterstaatssekretär für Unterricht) der Ersten Republik.
Im November 1920 schied die Sozialdemokratische Partei aus
der Bundesregierung aus, womit die Tätigkeit Otto Glöckels als
Unterrichtsminister beendet war. 1922 erfolgte die Trennung Wiens
von Niederösterreich. Wien wurde selbständiges Bundesland, in
dem die Sozialdemokratie ab 1923 mit Bürgermeister Karl Seitz
die Stadtverwaltung leitete. Das „Rote Wien“ entfaltete eine um¬
fassende sozialdemokratische Politik mit den drei Hauptschwer¬
punkten Wohnbau, Sozial- und Gesundheitswesen und Bildung.
Otto Glöckel übernahm 1922 die Position des Amtsführenden
Präsidenten des Wiener Stadtschulrats und initiierte die „Wiener
Schulreform“, deren Ideen er in seiner programmatischen Rede
„Das Tor der Zukunft“ schon 1917 vorgestellt hatte.
1928 erscheint eines seiner Schlüsselwerke „Drillschule Lernschule
Arbeitsschule“, dort ist unter dem Titel „Hoch die Schulreform!“
zu lesen:
Die Schule soll für das praktische, diesseitige Leben vorbereiten, soll eine
Erziehungsstätte sein, die aufrechte, stolze, sittlich gefestigte Menschen
hervorbringt, die in der Achtung vor der Arbeit, vor der Leistung für
die Gesamtheit zur Achtung vor der wirklichen Autorität führt! Diese
Ideen sind es, die die Schulerziehung beeinflussen müssen, die die Hirne
und Herzen der Arbeiterschaft erobert haben. So ist erklärlich, daß
kaum ein zweites Versammlungsthema so verständnisvollen Widerhall
findet, wie Schul- und Erziehungsfragen. Und das ist recht so! Die
Arbeiterschaft hat längst erkannt; „Der Feind, den wir am meisten
hassen, das ist der Unverstand der Massen!“
Die von Otto Glöckel angestrebte Schulreform konzentrierte
sich auf die Demokratisierung der Schule, die Sozialisierung der
Bildung und die Modernisierung des Unterrichts sowie organisa¬
torische und inhaltliche Mitbestimmung der Lehrer, Eltern und
SchülerInnen. Kostenlose Schulbücher und Lernmaterialien, soziale
und gesundheitliche Betreuung der SchülerInnen, gemeinsame
Schule der 10- bis 14-Jährigen sollten Voraussetzungen für Chan¬
cengleichheit herstellen. Durch kindgerechte Unterrichtsmethoden
sollten die Kinder die Lehrinhalte selbst erarbeiten können und an
die Themen des Lebens herangeführt werden. Das Hauptinteresse
der Reform war darauf gerichtet, gesunde Kinder zu kritischen,
selbständig denkenden und handelnden Bürgern zu erziehen. Zu
diesem Zweck wurde die Ausbildung der Lehrer durch die Ein¬
führung eines viersemestrigen Studiums für Pflichtschullehrer, die
Errichtung des Pädagogischen Institut und einer pädagogischen
Zentralbücherei verbessert und ausgeweitet. 1919 sicherte Otto
Glöckel den Frauen den freien Zugang zu den Universitäten.
Beachtliche Bedeutung hatte der sogenannte Glöckel-Erlass, mit
dem der verpflichtende Religionsunterricht sowie das tägliche
Schulgebet abgeschafft wurden.
Die Ideen von Otto Glöckel wurden richtungsweisend für den
gesamten europäischen Raum. Er trieb die Reform energisch voran
und konnte trotz krisengeschüttelter Wirtschaft und Angriffen von
Seiten der konservativen Bundesregierung und der katholischen
Kirche einen beträchtlichen Teil seiner Vorstellungen verwirklichen.
Am 13. Februar 1934 ließ ihn das austrofaschistische Regime in
seinem Arbeitszimmer im Stadtschulrat verhaften und ins Anhalt¬
lager Wöllersdorf bringen. Im Oktober wurde er als kranker und
gebrochener Mann entlassen. Er stirbt am 23. Juli 1935 und wird
unter Polizeiaufsicht in Meidling begraben. Am 18. August ist in der
‚kleinen‘, illegal verbreiteten Arbeiter-Zeitung die Notiz zu lesen:
Vielfach konnte man bemerken, daß in Wien die Trauerfahnen, die
für den Dollfuß-Gedenktag am 25. Juli zwangsweise gehifst worden
waren, auch noch am 26. und sogar am 27. Juli hängen blieben.
Diese verlängerte Trauer war so auffallend, dass in einigen Häusern
Wachleute erschienen und ... die Entfernung der Fahnen forderten.
... Die Wachleute selbst erklärten den Hausbesorgern ganz offen: „Ja,
ja, wir wissen schon, Ihr laßts die Fahnen jetzt für den Glöckel hängen.
Die Gedenktafel am Stadtschulratsgebäude, eine weitere an seinem
Wohnhaus, Gaudenzdorfer Gürtel 47, Otto-Glöckel-Schulen
sowie die Benennung von Straßen und Plätze in einigen Orten
Österreichs erinnern an den für sein Werk brennenden Baumeister
der Schulreform.
Der Ständestaat machte die Schulreform Otto Glöckels zunichte.
Hauptschule und höhere Schulen wurden wieder getrennt, ein
Aufstieg aus der Hauptschule in die höhere Schule war nicht mehr
möglich. Der kostenlose Zugang zu Schulbüchern und Lehrmittel
wurde rückgängig gemacht. Schulgeld wurde eingeführt. Mäd¬
chenschulen wurden geringer subventioniert als Knabenschulen.
Im Unterricht herrschten autoritäre Methoden, die körperliche
Erziehung wurde von militärischen Übungen geprägt, alle Unter¬
richtsfächer mussten engen Bezug zur „Wehrwissenschaft“ pflegen,