Otto Glöckel
Wandlung der Schule
Ja, sie ist jetzt anders, ganz anders geworden, unsere Schule, wenn
wir an die Zeit der Monarchie zurückdenken. Wie oft hört man
jetzt Eltern ausrufen: „Wie gern möchte ich wieder in die Schule
gehen!“, wenn ihnen die Kinder die neuen Bücher, mit denen
in der Schule gearbeitet wird, nach Hause bringen, wenn sie die
Zeichnungen sehen, die ihren Stoff unmittelbar aus dem Leben
schöpfen, wenn sie die freien Aufsätze voll Lebendigkeit und
Darstellungskraft lesen, wenn sie die Kinder auf der Straße, in den
Praterauen, im Wienerwald, in einer Werkstätte oder in einem
Betrieb in Begleitung ihrer Lehrer treffen, wenn sie von dem
gesunden, freien und ungezwungenen Verkehr zwischen Lehrer
und Schüler hören. Der Prügelgeist aus der klerikalen Schule,
der Polizeigeist aus der liberalen Schule, der zur Untertänigkeit
gegenüber dem Obrigkeitsstaat erzog, ist verscheucht. Die frohe
kindertümliche Arbeitsschule, die den Kindern das Glück der
Forschungsfreude vermittelt, hat sich siegreich durchgesetzt. Wohl
ist nicht in allen Bundesländern die Umgestaltung gleich weit
fortgeschritten. Das sozialdemokratische Wien ist am weitesten
vorausgeeilt, es ist auch zur Wallfahrtsstätte der Fachmänner aus
der ganzen Kulturwelt geworden. Überall dort, wo außerhalb
Wiens die Sozialdemokraten ein entscheidendes Wort zu sprechen
haben, wo sozialdemokratische Schulinspektoren wirken, geht
es mit raschen Schritten vorwärts. Aber auch in den rückschritt¬
lichen Gegenden sieht man bereits den Wert der neuen Schule
ein. Und so ist die neue Schule, die im demokratischen Geist
erzicht, die zum sozialen Denken führt, die Schule der jungen
Republik Österreich geworden. Aus ihr wird ein neues Geschlecht
hervorgehen, aufrecht, arbeitsfreudig, selbständig denkend und
handelnd, ein Geschlecht, das das Geschick von Land und Volk
aus eigenem Willen bestimmt.
Wie ganz anders sicht nun die neue Schulklasse aus! Blumen
grüßen von den Fenstern, Aquarien stehen an den Wänden, Bilder
aus dem Kindesleben und Schülerzeichnungen schmücken die
Wände, an die Stelle der Schulbank tritt oft Tisch und Sessel. Der
Lehrer thront nicht mehr über den Schülern, er wirkt mitten unter
ihnen. Die Stadt Wien hat Schulklassen mit geringer Schülerzahl
(Durchschnitt 29) geschaffen, sie gibt alle Unterrichtsbehelfe
den Kindern kostenlos in die Hand. Die lückenlos aufgebaute
Schülerausspeisung erlaubt das stolze Wort: In dieser Millionen¬
stadt gibt es kein hungerndes Schulkind mehr. Die Schulklasse
hat jeden Schreck verloren, sie wird zum Ort freudigen Erlebens
Viel bedeutungsvoller noch ist die innere Umwandlung in unseren
Schulen. Nicht mehr trockene Lesebuchweisheit, das wirkliche
Leben ist Gegenstand des Beobachtens, des Lernens. Daher werden
die Schulräume zu eng, die Kinder werden hinaus ins Leben
geführt, damit sie systematisch sehen, hören und urteilen lernen.
Nicht der Lehrer gibt den Kindern das Wissen, er leitet seine
Schüler an, das Wissensgut selbst zu finden, zu „entdecken“, zu
„erarbeiten“. In den ersten vier untersten Klassen gibt es keinen
Stundenplan mehr, der den Unterricht mit dem Glockenschlag
zerriß. Der Lernstoff wird in Form von zusammenhängenden
„Sachgebieten“ dem Kinde nahegebracht. Die Kinder schaffen
sich aus ihrer Erfahrung heraus die „Schulordnung“ selbst, sie
regeln sich selbständig ihr Zusammenleben. Die Großen bilden
ihre „Schülergemeinde“, die sie mit der Selbstregierung vertraut
und im späteren Leben fähig macht, den Fragen des öffentlichen
Lebens mit Verständnis gegenüberzutreten. Die Hobelbank, die
Drehbank ist in unsere Haupt- und Mittelschulen eingezogen.
Neben das Klassenzimmer, den Turnsaal tritt die Werkstätte, die
Schulküche. Das bedeutet Erziehung zur Achtung vor der Arbeit,
zur Wertschätzung jedes Menschen, der durch seines Kopfes oder
Hände Arbeit seinen Unterhalt verdient. Das Bildungsprivileg
sichert den Kindern der besitzenden Klasse konkurrenzlos den
Aufstieg in höhere Schulen, damit den sozialen Aufstieg. Die kleine
Republik Österreich hat im Kampfe gegen dieses furchtbarste
Unrecht beachtenswerte Erfolge aufzuweisen. Einem kleinen Teil
der besonders befähigten Kinder stehen die Bundeserziehungs¬
anstalten zur Verfügung, guten Schülern der Hauptschule ist der
Übertritt in die nächsthöhere Klasse einer Mittelschule ohne Auf¬
nahmsprüfung ermöglicht. Das Verhältnis der Eltern zur Schule
wurde wesentlich umgestaltet. Die Elternvereinsbewegung hat
insbesondere in Wien ihren vollen Ausbau gefunden. Eltern und
Lehrer, Haus und Schule müssen eine Erziehungsgemeinschaft
Fassen wir zusammen: In verhältnismäßig kurzer Zeit ist auf dem
Gebiete der Schulumwandlung ein außerordentlicher, kaum er¬
warteter Fortschritt erzielt worden. Ein neuer Geist ist in unsere
Schulen eingezogen. Die Ergebnisse wissenschaftlichen Forschens
werden praktisch ausgewertet. Die Wirklichkeit ist Gegenstand
des Lernens. Unsere Kinder werden diese Schule ganz anders
ausgerüstet verlassen, als wir seinerzeit von der Schule Abschied
genommen haben. Sie werden lebenstüchtig, mit viel größerer
Sicherheit und Zuversicht den Kampf aufnehmen, sie werden
nicht nur unsere Arbeit fortsetzen, sie werden erreichen, was uns
das Ziel der Sehnsucht ist.
Erschienen 1928 in der Festbroschüre zum 10-jährigen Bestehen der
Republik Österreich, herausgegeben von der Sozialdemokratischen
Arbeiterpartei Deutschösterreichs, S. 7-9.