LONDON
Die österreichischen Sozialisten und Gewerkschafter in London
versammelten sich am 14. November in einem für Österreich wich¬
tigen Augenblick, um der Ausrufung der Ersten Österreichischen
Republik zu gedenken. Die starke Beteiligung an der Versammlung
zeigte, wie stark das Interesse für Österreich und vor allem die
österreichische Arbeiterbewegung in London sowohl unter den
Emigranten aus den verschiedenen europäischen Ländern als
auch in der britischen Arbeiterbewegung ist. Für die internatio¬
nalen Vertreter — die Arbeiter-Emigranten-Gruppen Belgiens, der
Tschechoslovakei, Frankreichs, Deutschlands, Ungarns, Italiens,
Luxemburgs, Polens und Jugoslaviens waren vertreten — sprach
als erster De Brouck£re, der frühere Präsident der Sozialistischen
Arbeiter-Internationale. Für die englischen Gewerkschaften sprach
Ebby Edwards, der Vorsitzende der Britischen Gewerkschaften.
Peter Krier, Führer der luxemburgischen Arbeiter und Mitglied
der luxemburgischen Regierung, gab ein lebendiges Bild des Roten
Wien und seiner Bedeutung für den europäischen Sozialismus.
Hugo Breitner
Osterreich und die Schweiz
Austrian Labor Information (New York), März-April 1944; auch
abgedruckt in „Österrikiska Informationer“ (Stockholm) November
1944, Jänner 1945. Nachdruck: Arthur Breycha-Vauthier (Hg.): Sie
trugen Österreich mit sich in die Welt. Wien 1962, 11-27.
Als im November 1918 der erste Weltkrieg endete, blieb von dem
52-Millionen-Reich der österreichisch-ungarischen Monarchie
die kleine Republik Österreich mit 6,7 Millionen Einwohnern
übrig. Nahezu 2 Millionen davon lebten in der Hauptstadt Wien.
Die pessimistischesten Auffassungen über die Lebensfähigkeit des
neuen Staatsgebildes waren das erste Wiegengeschenk und beglei¬
teten es bis zu seinem Ende. Und jetzt, da nach den Beschlüssen
der Moskauer Konferenz das Wiedererstehen eines selbständigen
Österreichs, fraglos in Übereinstimmung mit dem Wunsche der
überragenden Mehrheit der Bevölkerung, als sicher gelten kann,
werden die gleichen Stimmen des Zweifels laut. Als Begründung
dafür werden die große Arbeitslosigkeit, die in Österreich herrschte,
und die wiederholte Notwendigkeit der Aufnahme von Auslands¬
anleihen angeführt.
Beides sind unbestreitbare Tatsachen. Trotzdem aber beweisen sie
keineswegs die dauernde Lebensunfähigkeit der Republik Öster¬
reich. Um zu einem richtigen Urteil zu gelangen, muß man die
ganz ungewöhnlichen und in vielfacher Beziehung einzigartigen
Verhältnisse in Betracht ziehen, unter denen das neue Österreich
entstanden ist und sein Dasein sich gestaltete. Die Auflösung
der Monarchie und der im Laufe der Jahrhunderte gewordenen
wirtschaftlichen Einheit vollzog sich nicht in friedlicher Auseinan¬
dersetzung, sondern war das Ergebnis des verlorenen Weltkrieges.
Mehr als vier Jahre hatte die Aushungerung gedauert, und sie
hatte nirgends so verheerend gewirkt wie gerade im Gebiete der
künftigen Republik Österreich mit der Zweimillionenstadt Wien.
Es war eine Aufzehrung aller wie immer gearteten Vorräte bis zum
Der österreichische Sprecher war Oskar Pollak, dessen Ausfüh¬
rungen in den Worten ausklangen: Österreich muss unabhängig
und international zugleich sein!
Eine Woche vorher, am 7. November, veranstalteten unsere
Londoner Freunde eine Gedenkfeier anlässlich von Victor Adlers
25. Todestag.
David Bach sprach über die persönlichen Erinnerungen an Vic¬
tor Adler. Karl Czernetz gab ein Bild von Victor Adlers politischer
Leistung. Camille Huysmans, der letzte Präsident der Internatio¬
nale, einer der Freunde Victor Adlers in der Internationale, sprach
über Adlers Bedeutung für die europäische Arbeiterbewegung.
Musikalische Vorträge umrahmten die Feier. Unter anderem
wurde die Trauermusik aus Bruckners Siebenter Symphonie ge¬
spielt, die vor 25 Jahren in Wien bei der Trauerfeier für Victor
Adler gespielt worden war und zu den Lieblingsstücken Victor
Adlers gehörte.
Letzten. Nur ein paar Schlaglichter, um die vergessene Elendszeit
ins Bewußtsein zu rufen: Der Mangel an Wäsche ging so weit,
daß Säuglinge in Zeitungspapier eingewickelt wurden. Die Bänke
in den öffentlichen Gärten wanderten in die Öfen, die Wälder in
der Umgebung Wiens wurden abgeholzt, in tausenden Wohnun¬
gen sind Türen und Fußböden im Winter als Feuerungsmaterial
verwendet worden. Die Kupferdrähte der elektrischen Leitungen
wurden für Kriegszwecke ausgegraben und durch eiserne ersetzt,
was fortwährende Stromstörungen verursachte. Die Eisenbah¬
nen, die Straßenbahnen waren am Ende ihrer Leistungsfähigkeit
angelangt, der Oberbau vernachlässigt, die Schienen abgenützt,
Lokomotiven und Waggons völlig verwahrlost. Genauso sah es
mit den Maschinen in Fabriken und Werkstätten aus, genauso
herabgekommen war die Landwirtschaft, der es an Diingemitteln,
Ackergeraten, an ausreichendem Viehbestand und vor allem an
Arbeitskraften mangelte.
Zu der halbverhungerten, zerlumpten, an ihren Nerven schwer
geschädigten heimischen Bevölkerung kamen die Verwunde¬
ten der Front, die Krüppel, die Blinden, die Zitterer, ein wahrer
Trümmerhaufen menschlichen Elends.
Diese furchtbaren Belastungen wurden noch durch die tiefe, bis
zur offenen Feindseligkeit gehende Abneigung der Nachfolge¬
staaten gesteigert. Das deutschsprachige Österreich wurde für alle
Hemmnisse verantwortlich gemacht, die sie bei der Durchsetzung
ihrer eigenen Nationalität zu erdulden gehabt hatten. Für sie war
Wien immer noch der Sitz der verhaßten Habsburger.
Im Rahmen Österreichs wurde Wien als ein ganz besonderes
Übel angesehen. Es war früher das Verwaltungszentrum der Mo¬
narchie gewesen. Der Hof, die Vertretungen der ausländischen
Mächte, die obersten Militär- und Zivilbehörden, die höchsten
Gerichtshöfe hatten in Wien ihren Sitz. Alle Wirtschaftsfäden
liefen dort zusammen. Die Banken, die Versicherungsgesellschaf¬
ten, die Industrien, wo immer die Fabriken gelegen sein mochten,