OCR Output

Leonard H. Ehrlich (1924-2011) besuchte in
Wien das Chajesgymnasium und die Jugend¬
gottesdienste im Tempel in der Kluckygasse in
der Brigittenau. Der junge Rabbiner Benjamin
Murmelstein (1905 — 1989) machte auf ihn
einen großen Eindruck. Er schreibt in dem hier
rezensierten Buch: „Murmelstein did not talk
down to the children; with Murmelstein we
were faced with the challenge to grow in our
capacity to understand. [...] I appreciated the
seriousness of what he presented, the clarity of
his expression, and the power of his knowledge.
[...] in those tender years Murmelstein was an
example for me of what learning awaited me...“

Im Marz 1937 feierte Ehrlich im Tempel in der
Kluckygasse mit Murmelstein seine Bar Mizwa.
Im November 1939 flüchtete er mit seinen Eltern
in die USA. Nach der Vollendung seiner Schul¬
ausbildung trat er in die amerikanische Armee
ein. Er diente als Sanitäter und heiratete 1944
Edith Schwarz (1925 — 2015), eine Wienerin,
die er im Chajesgymnasium kennengelernt hatte.
In ZW (Nx. 3-4/2008, S. 27-33) ist ein Vortrag
von Edith Ehrlich tiber ihr Leben abgedruckt.
Thre Autobiographie Chapters from a Young Life
ist noch unveröffentlicht.

Von 1948 bis 1951 studierte das Ehepaar
Ehrlich bei Karl Jaspers in Basel. Nach ihrer
Rückkehr in die USA promovierten beide an
der Yale University. Ab 1956 lehrte Leonard H.
Ehrlich an der University of Massachusetts in
Amherst. Er war der Doyen der amerikanischen
Jaspers-Forschung und langjahriger Vorsitzender
der Karl Jaspers Society of North America.

1946 erfuhr Ehrlich von seinem Vater von den
schweren Vorwiirfen, die gegen Murmelsteins
Funktionen und Auftreten in der NS-Zeit in
der jiidischen Presse erhoben wurden. In den
sechziger Jahren beschloss er, mit der Hilfe seiner
Frau dieser Geschichte nachzugehen.

Benjamin Murmelstein leitete ab 1938 die
Auswanderungsabteilung der Israelitischen
Kultusgemeinde. Noch 1940/41 scheiterte sein
Versuch auszuwandern und seine Bewerbung fiir
die Stelle des Oberrabbiners von Schweden als
Nachfolger von Markus Ehrenpreis. Stattdessen
wurde er Stellvertreter des von den nationalso¬
zialistischen Behörden eingesetzten Leiters der
Kultusgemeinde Josef Löwenherz (1884 - 1960)
und 1944/45 dritter „Judenältester“ des Ghettos
Theresienstadt. Nach der Befreiung lebte er mit
seiner Frau und seinem Sohn Wolf Murmelstein
in Rom, wo er als Möbelverkäufer arbeitete. Als
Wissenschaftler benutzte er die Bibliothek des
Vatikans. So erklärt sich auch, dass er manchmal
mit dem Oberrabbiner von Rom Israel Zolli
(1881 - 1956) verwechselt wurde, der im Feb¬
ruar 1945 zum Katholizismus übergetreten war.

Rabbiner Israel Kanner (1907 — 1978), in
Wien ein enger Mitarbeiter von Robert Stricker,
war 1939 aus Wien nach Palästina geflüchtet

und publizierte 1961 in der deutschsprachigen
Tageszeitung Jedioth Chadashot einen Artikel
mit der Anschuldigung, Murmelstein sei direkt
verantwortlich für die Deportation von Robert
Stricker und Desider Friedmann (dem Präsidenten
der Kultusgemeinde von 1932 bis 1938) von
"Theresienstadt nach Auschwitz, wo sie und ihre
Ehefrauen ermordet wurden.

Das erste Kapitel des Buches ist ein Bericht
über die Mühen und Anfänge der Forschung
über ein so heikles und tabuisiertes Thema. Im
Archiv des American Jewish Joint Distribution
Committee in New York erhielt das Paar keine
Kopiererlaubnis. Isaiah Trunk, Archivar des YIVO
in New York und Autor des Buches Judenrat:
The Jewish Councils in Eastern Europe (1972),
und auch Simon Wiesenthal in Wien wussten
nichts über Murmelstein. Hingegen erhielt das
Forscherpaar Dokumente aus dem Archiv von
Jonny Moser. 1977 fuhr das Paar auch nach Rom,
um über Empfehlung seiner früheren Mitarbei¬
terin Margarete Feiler ausführliche Interviews
mit Murmelstein zu führen.

Eine der wichtigsten Quellen der Autoren sind
der Nachlass von Josef Löwenherz (1884 — 1960)
und die Aktennotizen der Gemeindeführung,
archiviert im Leo Baeck Institut in New York.

Leonard und Edith Ehrlich hatten viele Kontakte
mit Historikern ihrer Generation. Ein Beispiel
ist Raul Hilberg, der seine Jugend in der Wiener
Brigittenau verbrachte. Sie schreiben über ihn:
„For decades Hilberg had been fully aware of
the fact that our research caused us to disagree
with his interpretation of the performance of
Löwenherz and especially of Murmelstein. [...]
Nonetheless, we would like our readers to know
of our high regard for Hilberg and of our friendly
meetings with him.“

Uber die Wiener jiidische Gemeinde in der
NS-Zeit publizierte Doron Rabinovici 2000 die
wichtige Studie Instanzen der Ohnmacht. 2011
und 2014 erschienen in Deutschland zwei Bücher
über Murmelstein. 2014 gaben Ruth Pleyer und
Alfred J. Noll Murmelsteins aus dem Italieni¬
schen übersetztes Buch über Theresienstadt im
Czernin Verlag heraus. (Vergleiche dazu meine
Sammelrezension in der ZW Nr. 4/2014, S. 76).

Die Fertigstellung von Claude Lanzmanns
Film Der letzte der Ungerechten über Murmelstein
2013 (dessen Iranskript 2017 im Rowohlt Verlag
erschien) erlebte Leonard Ehrlich nicht mehr.

Carl. S. Ehrlich, der Herausgeber und Sohn des
Autorenpaares, lehrt Biblical and Near Eastern
Studies an der York University in Toronto, an
der er auch das Israel and Golda Koschitzky
Centre for Jewish Studies leitet. Er ist Autor des
Buches Understanding Judaism (2004), das auch
in deutscher Ubersetzung erschien.

Im Dezember 2010 schrieben Leonard und
Edith Ehrlich ihm (und seiner Schwester): „Dear
children, the writing of Choices under Duress is

finished“, obwohl sie in der Einleitung festge¬
halten hatten: „We never feltwe had completed
our research, and we never made use of all the
research material that we had gathered ...“ Im
Juni 2011 starb Leonard Ehrlich. Edith Ehrlich
erkrankte an einer Augenkrankheit und konnte
bei der editorischen Arbeit nicht mehr viel helfen.

Carl. S. Ehrlich hat in den folgenden Jahren
eine bewundernswerte editorische Arbeit geleistet
und schreibt über seine Eltern: „Leonard and
Edith Ehrlich would be inseparable partners,
intellectual collaborators, and frequent coauthors
for sixty-seven years [...].“

Zwei Namen (Viktor, nicht Jakob Ornstein,
S. 365, und Sally Mayer, nicht Saly Meyer, S.
460) sollten, falls es zu einer Ubersetzung des
Werkes kommt, korrigiert und der Namensindex
erganzt werden.

Das Buch konnte nur mithilfe eines Druckkos¬
tenzuschusses des Zukunftsfonds der Republik
Osterreich erscheinen und wurde im Februar
2019 im Wiener jiidischen Museum von Carl.
S. Ehrlich prasentiert. Ingo Zechner, der von
2000 bis 2008 als Historiker bei der Israeli¬
tischen Kultusgemeinde tatig war und 2009
während seiner Zeit als Geschäftsführer des Wie¬
ner Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien
(VWI) einen Vortragvon Leonard Ehrlich über
Murmelstein in Wien organisiert hatte, sprach
einleitende Worte. Zur Enttäuschung einiger
Personen im Publikum konnte das Buch im
2018 eingerichteten Museumsshop Gottfried
& Söhne nicht gekauft werden.

Die Historikerin Harriet Pass Freidenreich,
Autorin des Buches Jewish Politics in Vienna,
1918-1938 (1991) schreibt in ihrer Einleitung:
„Leonard and Edith Ehrlich‘s research metho¬
dology goes far beyond the historical data they
collected to include detailed psychological and
philosophical analyses ofthe very limited choices
available to Murmelstein and his counterparts
in other communities and ghettos during the
Holocaust. [...] This book [...] is likely to become
the definitive study of Vienna's Jewish community
and its leadership during the Holocaust, even
though some historians may still disagree with
its conclusions.“

Dem ist nichts hinzuzufügen außer der Emp¬
fehlung, dass, wer immer sich für die Geschichte
der Wiener jüdischen Gemeinde interessiert,
das Buch konsultieren sollte. Der zweite Band
über die Zeit in Theresienstadt soll plangemäß
in zwei Jahren erscheinen.

Evelyn Adunka

Leonard H. Ehrlich and Edith Ehrlich: Choices
under Duress of the Holocaust. Benjamin Mur¬
melstein and the Fate of Viennese Jewry. Volume
I Vienna. Edited by Carl S.Ehrlich. Texas Tech
University Press 2018. 6525.

Juli 2019 79