Als Kind mit ihren Eltern ins Vereinigte Kö¬
nigreich emigriert, setzt sich die Autorin wie¬
der ins Flugzeug und macht eine Reise in die
ursprüngliche Heimat. Es handelt sich um die
Grenzregion zwischen Bulgarien, Griechenland
und der Türkei. Die, wie sie sagt, letzte Grenze
Europas. Zurück zu reisen impliziert in ihrem
Fall nicht nur das Zurückgehen zu den bekann¬
ten Orten, sondern auch die Möglichkeit, nun
die früher verbotenen Orte zu betreten.
Die Eindrücke der Reise verwertet sie zu einer
Collage eines Prosa-Textes in Form eines Buches:
Erinnerungen vermischen sich mit sachlichen
Geschichtsepisoden. Bilder und Beschreibungen
verknüpft sie mit Interviews, erzählten Legenden
und Geschichten. In vielen kurzen Abschnitten
schreibt sie oft schwärmerisch von Schneeber¬
gen, Sandwinden, verlassenen Grenzhütten, die
früher streng bewacht, und jetzt überflüssig ge¬
worden sind, verfallenen Ruinen auf Gipfeln,
bulgarischen Rosen oder Tabakfeldern. „Eschen,
deren grünes Licht man schmecken konnte,
es schmeckte nach Chlorophyll.“ Sie entwirft
dabei raue Bilder wuchernder Wildnis in mei¬
nem Kopf, die ich mit dem Begriff „das Ende
der Welt“ assoziiere. Sie machen mir als Leserin
Lust, ebenfalls an irgendein anderes Ende der
Welt zu fahren und dort in sozialer Abgeschie¬
denheit durch die Landschaft zu wandern und
für mehrere Tage bloß zu schauen.
Abgeschieden fühlt sich die Autorin inmitten
einer der größten Wildnisse Europas allerdings
trotzdem nicht. Ganz im Gegenteil. Sie befindet
sich, wie sie sagt — cher in der Mitte der Welt.
Aber auch am Rande Europas. Und auch an der
letzten Grenze. Wo bitteschön ist das?
Aufjedem Fall an einem politisch und emotional
aufgeladenen Ort. „Eine Region, die nicht ganz
Europa und noch nicht ganz Asien ist, die Ver¬
bindung zwischen dem, was wir uns angewohnt
haben, in Ost und West zu teilen.“ Kassabova
schreibt, dass die Menschen diese Grenze in sich
tragen. Es ist eine Begegnungszone von Einhei¬
mischen, Touristen, Schleppern, Fliehenden,
Geflohenen und grüßenden Soldaten.
Ein Schäfer erzählt ihr davon, wie er einmal,
nach dem vormittäglichen Schaftreiben an
der Grenze, zu dem Platz zurückgekehrt war,
wo er sein Mittagessen stehen gelassen hatte.
Anstatt seines Brotes fand er dort aber nur ein
paar deutsche Mark vor. Wahrscheinlich hatten
Flüchtlinge, die es über die Grenze geschafft
hatten, die Jause genommen und das Geld dafür
dort gelassen. Der Polizei meldete der Schäfer
von diesem Vorfall nichts. Kurz darauf wurden
die Flüchtlinge aber verhaftet und erwähnten
im Verhör das zu sich genommene Essen. Die
Polizei forschte nach. Der Schäfer wurde wenig
später eingesperrt.
Kassabova, eine durchaus kommunikative
Person, durchquert mit dem Auto ein Sam¬
melbecken an Kulturen und forscht nach Er¬
zählenswertem. Dabei ist sie meiner Meinung
nach ungewöhnlich mutig, neugierig und fragt
nach. Sie sitzt als einzige Frau in Cafes, in die
sonst keine Frauen kommen. Sie lässt sich von
Wildfremden beherbergen und herumführen.
Sie hat die Gabe, den Leuten schnell Vertrauen
zu schenken und geht davon aus, dass es alle
Menschen gut meinen. Diese Haltung färbt auf
ihre GastgeberInnen ab und damit auf das, was
ihr erzählt wird — das Repertoire dessen, was wir
in dem Buch lesen können.
Ich staune über diese Autorinnen-Qualität.
Damit, wie sie an die Geschichten herangeht
und -kommt, fängt sie mein Interesse fast mehr
ein, als es die Geschichten selbst tun.
Im Sommer habe ich mit zwei Freunden eine
Reise nach Bulgarien ans Schwarze Meer ge¬
macht. Wir sind zweieinhalb Tage mit dem
Auto hin- und zweieinhalb Tage zurückgefahren.
Nach der Hälfte unseres gesamten Fahrweges
haben wir uns gegenseitig im beträchtlichen
Maße anstrengend gefunden.
Auf jeden Fall bin ich eines Morges deshalb
alleine am Strand Richtung Rumänien losgegan¬
gen, so in Wanderlust, dass ich gar nicht mehr
daran dachte, umzukehren. Es wurde Mittag
und unendlich heiß. Ich hatte kein Wasser dabei
und begann auf den niedrigen Felsen der Küste,
die ich ab und zu entlangklettern musste, vor
Erschöpfung ins Meer abzurutschen und mir die
Knie aufzuschürfen. Der Weg war wunderschön.
Ich sah tausende unreife Pflaumen in mattem
Violett. Ich hielt noch unreifere Äpfel in mei¬
ner Hand, die sich anfühlten wie Steine. Dann
kam ich in ein Fischerdörfchen. Ein paar ältere
Männer, die dort unter einer Laube saßen, Ra¬
dio hörten und tranken, hatten mich kommen
gehört. Sie riefen mir aufgeregt zu und winkten
mit ihren Spirituosenglasern. Und ich — wink¬
te zwar zuriick, ging aber weiter an der Kiiste
entlang. Ich traute mich in der Situation nicht,
ihnen Gesellschaft zu leisten und ein Gläschen
mitzutrinken. Irgendwas hielt mich davon ab.
Später ärgerte ich mich. Vor allem, weil der
Durst unerträglich wurde. Aber in jenem Au¬
genblick war ich zu ängstlich gewesen. Ich hatte
meine Chance verpasst, zu hören, was mir die
betrunkenen Männer, wenn auch auf Bulgarisch,
erzählen hätten können.
Menschen können alles erzählen. Das Thema
des Buches sind die Geschichten der Menschen.
Welche Geschichten? Die Leute erzählen Kas¬
sabova meist etwas, das als „ihre Geschichte“
definiert werden könnte. Woraus besteht so eine
eigene Geschichte? Einerseits aus persönlichen
Geschehnissen und Erlebnissen aus dem Fami¬
lien- oder Bekanntenkreis, kurz, die Beschrei¬
bung des Alltagslebens, und andererseits deren
Einbettung in einen gesellschaftspolitischen
Hintergrund. Die Geschichten bewegen sich
oft innerhalb eines abgesteckten Bereichs an
‘Themen und erscheinen mir passagenweise zwar
nicht gerade langweilig, aber sie wiederholen sich
und werden mit der Zeit etwas öde.
Interessante Fragen und Antworten tauchen
aber trotzdem auf. Wer ist man, wenn das Dorf
sowie man selbst aufgrund von Grenzverände¬
rungen zweimal einen neuen Namen in einer
anderen Sprache bekommt? Wer ist man, wenn
man eine unverheiratete Frau ist? Was macht
man, wenn man hintergangen wird? Was macht
man, wenn man warten muss? Wenn man auf
seinen Schlepper warten muss, trinkt man Kaffee
mit viel Zucker, spielt Karten, raucht und redet.
Vor kurzem erzählte mir ein Freund, dass er
darüber gestaunt hatte, wie braungebrannt ein
syrischer Kollege von ihm schon jetzt im April
sei. Dieser erklärte ihm daraufhin, dass er ihn in
den zwei Sommermonaten in der Türkei hätte
sehen müssen, als er auf den Schlepper gewartet
hatte. Da war er viel am Strand gelegen.
Was sind das für Menschen an dieser Grenze,
die diese Geschichten erzählen? Sie bekommen
kurzfristig Gesichter und Namen, verschwinden
aber im Fluss des Buches auch schnell wieder.
Gemütliche Menschen sind es meist. Nichts
ist für sie dringend. Nichts muss so schnell wie
möglich passieren. „Alte Männer saßen auf
Stühlen, blickten auf etwas, was nicht gesehen
werden kann.“ Ich erinnere mich an Autofahr¬
ten durch rumänische Provinzen, wo auch mir
genau das aufgefallen ist. Alte Menschen, die vor
ihren Gartenzäunen aufeiner Bank oder einem
Stuhl sitzen und auf die Hauptstraße schauen,
als würde dort gerade irgendetwas passieren.
Dabei passiert dort doch gar nichts, ausgenom¬
men das Vorbeifahren von Autos. Wie kann es
sein, dass ihnen diese Tätigkeit nicht langweilig
wird? Habe ich mich damals gefragt und frage
ich mich heute.
Die Autorin schreibt außerdem, dass sich die
Menschen durch ihre Gastfreundschaft und
Gastkultur von den Menschen unterscheiden,
die sie in Schottland kennt. Es handelt sich
stellenweise um eine solch extreme Form von
Herzlichkeit, dass sie die Schriftstellerin fast
zwingen, als Gast zu bleiben. Und als Gast wie¬
derzukommen. Und als Gast anzustoßen. Und
als Gast hochgepriesen zu werden.
Als eine Freundin und ich Touristinnen in einer
marokkanischen Küstenstadt waren, machten
wir die Bekanntschaft eines Einheimischen, der
anbot, uns mit dem Auto nach Marrakesch mit¬
zunehmen. Wir sagten sofort zu und fuhren
einen Nachmittag lang durch eine nordafrikani¬
sche Landschaft voller Olivenbäume. Er schlug
vor, uns für die nächsten Tage bei einer befreun¬
deten Familie unterzubringen. Wir freuten uns
über die wunderbare Gastfreundschaft, die wir
genießen durften und fanden uns kurz daraufhin
in dem Wohnzimmer einer Großfamilie wieder,
die augenblicklich damit beschäftigt war, die
bestmöglichen, bemühtesten Gastgeber für uns
zu sein. Der Raum, in dem wir zusammensaßen,
war ein Palast. Wir machten es uns auf einem
an die Wand gerückten, alle Seiten ausfüllen¬
den Satinsofa bequem und unterhielten uns
bei Pfefferminztee. Die Töchter konnten gut
Englisch. Die Eltern, die am längsten mit uns
dort saßen, nicht. Die Mutter, sehr interessiert