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Zusammenhang mit diesem Gedanken und mit seiner Auffassung, dass die Dichtung der Ort des Einmaligen und Individuellen ist, definiert Celan die Dichtung als „Gestalt gewordene Sprache eines Einzelnen“, eine Gestalt, die freigesetzt worden sei „unter dem Zeichen einer radikalen und sich der von der Sprache erschlossenen Möglichkeiten eingedenk bleibenden Individuation“. (Mikrolithen 197, PCM 9 u. 215) Zwei Inhalte von Gestalt stehen sich somit gegenüber: die sich herausbildende „eigentümliche deutsche Gestalt“, die Jünger zufolge die Gestalt des „Zivilisationsjuden“ sichtbar mache, um diesem den Wahn auszutreiben, jemals Deutscher sein zu können, und die Gestalt gewordene Sprache eines Einzelnen, wie Celan seine Dichtung versteht. Dieser Einzelne, der die Gestalt gewordene Sprache hervorgebracht hat, ist selber freilich keine Gestalt, weder des „Deutschen“ noch des „Jüdischen“ und schon gar nicht des „Zivilisationsjuden“; er ist ein Individuum, ein Ich, das unter dem Zeichen einer radikalen Individuation steht und ihr in seiner Dichtung Gestalt verleiht. Auch so ließe sich der verklausulierte Satz interpretieren, in dem Celan zu erklären versucht, was ihn zögern lässt, Jünger seine Gedichte vorzulegen. Tatsächlich erklärt er ihm mit diesem Satz, was sie voneinander trennt: das nämlich, was die eigentümliche deutsche Gestalt in der Person von Ernst Jünger von der Gestalt unter dem Zeichen einer radikalen Individuation in der Person von Paul Celan trennt. Und warum nicht auch noch das, was den dem Anarchismus zugeneigten Paul Celan vom „Anarchen“ trennt, als der sich Ernst Jünger zu stilisieren pflegte. '® Celan und Jünger seien sich weniger fremd gewesen, als angenommen werde, meint Tobias Wimbauer.'’ Die Argumente, die er in seiner Entgegnung an Jean Bollack als Begründung anführt, überzeugen genauso wenig wie seine Auslegung des Briefes.'* Weitere Dokumente und Zeugnisse für Celans Verhältnis zu Jünger bietet der heutige Stand der Forschung wenig. Unter den Nachlassgedichten Celans findet sich aber eines, dessen Bezugnahme auf Ernst Jünger, genauer: auf zwei seiner Essays, unverkennbar ist: Mit der Friedenstaube, so kommt der Werwolf daher, ein Waldein Widergänger inmitten gradgespiegelter Lügen. Geht nur, folgt ihm, er ist nicht allein. Mit ihm geht das umgestülpte Henkerwort, grofsmäulig, umstarrt von Goldzahn, Goldhauer, Goldkralle. (PC/GN, 65 u. HKA 11, 388) Das undatierte Gedicht, entstanden vermutlich Ende August 1962, gehörte zum Entwurf der Niemandsrose, wo es am 30. März 1963 noch als Nr. 8 des letzten Zyklus zwischen Auhediblu und Affenzeit eingetragen wurde. Es zählt somit zu einer größeren Gruppe von Gedichten, deren Aufnahme in Die Niemandsrose vorübergehend erwogen und schließlich aus wohl unterschiedlichen Struktur- und Gestaltungsgründen verworfen wurde.'” In der ersten Strophe wird 36 ZWISCHENWELT die Gestalt des Werwolfs hervorgebracht - in der germanischen Mythologie und im Volksglauben ein Mann, der die Fähigkeit besitzt, sich in einen Wolf zu verwandeln oder ein Wolf, in dem die Seele eines Menschen steckt. „Werwolf“ ist auch der Name einer Ende 1944 ausgerufenen nationalsozialistischen Untergrundbewegung, die in den von den Alliierten besetzten Gebieten des Dritten Reiches Sabotageakte und Anschläge durchführen und den Krieg auch nach der Niederlage des Dritten Reiches fortsetzen sollte. Mit dieser Konnotation — als Verweis auf den virulenten oder wiederkehrenden Nationalsozialismus - kommen „Werwölfe“ in mehreren Nachlassgedichten und Gedichtsfragmenten aus dem Zeitraum der Niemandsrose vor. In diesem Gedicht vollzieht sich allerdings eine weitaus komplexere Gestaltung des Werwolfs: er ist, als Werwolf, ein Waldund Widergänger, kommt aber mit der Friedenstaube daher. Widergänger nennt man im Volksglauben einen verstorbenen „Untoten“, der aus dem Grab heraus seinen unheilvollen Einfluss auf die Lebenden auszuüben vermag oder wiederkehrt, um sich an den Lebenden zu rächen. Als mythologische Spukfiguren gleichen sich Werwolf und Widergänger, insofern der Widergänger als Werwolf wiederzukehren pflegt. Eine weitere Seinsweise des Werwolfs verbirgt sich in der Zusammenfügung „ein Wald- / ein Widergänger“. Das durch Ergänzungsstrich teils eingesparte und gleichsam verdeckte, durch seine Trennung am Versende aber zugleich hervorgehobene Wortglied „Waldgänger“, ist ein Verweis auf Ernst Jünger. Auch der Waldgänger ist, wie der Werwolf und der Widergänger, eine mythologische Figur, allerdings handelt es sich um einen von Ernst Jünger selber erschaffenen Mythos unter dem Titel Der Waldgang”. Der Waldgänger ist die zentrale Gestalt in diesem Essay und die dritte mythische Gestalt im Oeuvre Ernst Jüngers nach dem „Arbeiter“ und dem „Krieger“. Vor diesem Hintergrund kann man auch die Friedenstaube, mit der das Gedicht einsetzt, als einen Verweis auf Ernst Jünger lesen, genauer, auf seinen Essay Der Friede”. Ihre Voranstellung im Gedicht verleiht der Friedenstaube ein besonderes Gewicht, sie scheint merkwürdigerweise das wichtigste Attribut des Werwolfs zu sein, würde man doch eher die erst am Ende des Gedichtes erwähnten Zahn, Hauer und Kralle zu den Attributen des Werwolfs zählen. Das Symbol der Friedenstaube gründet im nicht nur alttestamentarischen Mythos von der Sintflut, wonach eine von Noah aufgelassene Taube mit einem grünen Ölzweig im Schnabel zur Arche zurückkehrt und verkündet, dass Gott den Vernichtungskrieg gegen seine Schöpfung ausgesetzt hat und das Leben weitergehen darf. 1949 hat Pablo Picasso eine Friedenstaube für den Pariser Weltfriedenskongress entworfen und lithographiert, wodurch sie zum Symbol der internationalen Friedensbewegungen wurde. Auch Ernst Jünger lässt eine Friedenstaube aus seinem Essay Der Friede aufsteigen, indem er darin seine Sichtweise auf den soeben beendeten Krieg und auf die europäische Nachkriegsordnung kundtur. Der Werwolf-und-Waldganger kommt mit der Friedenstaube „inmitten / gradgespiegelter Lügen“ daher. Gradgespiegelt kann man Lügen nennen, die, indem sie durch eine Spiegelung bzw. spiegelbildlich begradigt wurden, nicht mehr als Lügen erkennbar sind und als Wahrheit präsentiert werden. Was rechts ist, erscheint im Spiegel links und umgekehrt. Ein Beispiel solcher spiegelbildlichen Verwandlung ist die bei Celan mehrmals vorkommende Figur des „Links-Nibelungen“. Dieser gibt vor, links zu sein, huldigt aber deutschnationalen oder gar nationalsozialistischen Wertvorstellungen, wie z.B. „der Runige“ im Gedicht