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Auch der Runige, der sich rot schabt und auf die linke Fahrspur wechselt. (PC/GN 328) „Gradgespiegelte Lügen“ kann aber auch eine ganz konkrete Referenz haben, nämlich das Wochenblatt Der Spiegel, das Celan in Paris aufmerksam gelesen hat. Manche Veröffentlichung im Spiegel zur Entstehungszeit des Gedichtes, deren Autor bei Celan im Verdacht eines „Links-Nibelungen“ stand, käme durchaus in Betracht, von ihm als „gradgespiegelte Lüge“ wahrgenommen zu werden.” Die zweite Strophe fordert ironisch auf, dem Werwolfzu folgen: „Geht nur, folgt ihm, er ist nicht / allein.“ Das Verhältnis von Führer und Gefolgschaft wird angedeutet, der Werwolf scheint eine Führergestalt zu sein: Führer, befiehl, wir folgen! Daher wohl auch seine Bezeichnung als Widergänger. Und er ist nicht allein, denn „das um- / gestülpte Henkerwort“ begleitet ihn beim Waldgang. In mehreren aphoristischen Notizen höhnt Celan über die philosemitische „Umstülpung jüdischer Klischees“ bei manchen Autoren der deutschen Nachkriegsliteratur, die ein Zeichen der radikalen „Umkehr“ vom nationalsozialistischen Antisemitismus zu setzen meinen, indem sie etwa nicht mehr von „Abraham Krummnase“ sprechen, sondern von „Mirjam Mandelaug“.” So dürfte man auch „das umgestülpte Henkerwort“ verstehen: die Henker von gestern haben als Zeichen angeblicher Umkehr ihre antisemitischen Klischees ins Philosemitische umgestülpt. Das umgestülpte Henkerwort scheint die Friedenstaube zu sein, mit der der Werwolf daher kommt. Er hat sein Henkerwort zu einer Friedensbotschaft umgestülpt, und dieses scheint sogar den Aufruf, ihm zu folgen, erst zu begründen: Folgt ihm, er ist nicht allein, denn das umgestülpte Henkerwort geht mit ihm! Es ist ein großmäuliges Wort, das von drei seltsamen, auf Zahn, Hauer und Kralle reduzierten Waldwesen, die die Namen Goldzahn, Goldhauer und Goldkralle führen, „umstarrt“, also umstellt und angestarrt wird. Ein Tableau wie aus einem Schauermärchen. Denkt man allerdings an den Ausdruck „von Waffen starren“, der durch das Partizip „umstarrt“ angesprochen wird, ergäbe sich eine etwas andere Interpretation: das „umgestülpte Henkerwort“ des Werwolfs starrt von Waffen.” Es sind Attribute des Raubtiers, das „vergoldete“ Mordwerkzeug des Werwolfs, von dem sein umgestülptes Henkerwort, seine Friedensbotschaft umstarrt ist.” Fassen wir zusammen: Im Gedicht Mit der Friedenstaube tritt aus einem äußerst komprimierten Verweisungszusammenhang ein Werwolf hervor, dessen Gestaltung als Waldgänger mit der Friedenstaube auf Ernst Jüngers Essays Der Friede und Der Waldgang verweist. Die Friedenstaube ist wohl seine Friedensbotschaft, mit der er inmitten gradgespiegelter Lügen daherkommt. Bei näherer Hinsicht präsentiert sich diese komplexe Gestalt als die groteske Dreieinigkeit von Werwolf, Waldgänger und Widergänger: ein Bild von großer dichterischer Prägnanz und Aussagekraft, erreicht durch die rhythmisch-semantische Verschränkung seiner drei Komponenten und die dreifache Alliteration, die Anklänge an germanische Stabreimdichtung wachruft. Die zweite Strophe ergänzt die Gestalt des Werwolfs: seine Friedensbotschaft ist sein Henkerwort, das er zu einer großmäuligen Friedensbotschaft umgestülpt hat, umstarrt von Goldzahn, Goldhauer und Goldkralle. Es sind die vergoldeten Waffen des Werwolfs, mit denen sein umgestülptes Henkerwort ausgerüstet ist, während er selber gleichsam als ein Wolf im Schafspelz mit der Friedenstaube daherkommt. IV Als Celan Mit der Friedenstaube schrieb, lag sein Brief an Ernst Jünger schon zehn Jahre zurück. 1962 war er kein unbekannter Dichter mehr, der sich um die Gunst einer einflussreichen Persönlichkeit bemühen muss, um verlegt zu werden. In seinen Briefen und Notizen finden sich kaum weitere Verweise auf Ernst Jünger. Die Gestalt des Werwolfs aber, die als Wald- und Widergänger mit der Friedenstaube daherkommt, verweist auf Jiingers Essays Der Friede und Der Waldgang, die somit als Referenzrahmen für das Verständnis des Gedichtes berücksichtigt werden sollen. Die Motivierung dieses referentiellen Zusammenhangs kann aus den in beiden Texten artikulierten Visionen und Wertvorstellungen erschlossen werden. Der Essay Der Friede: ein Wort an die Jugend Europas, ein Wort an die Jugend der Welt erschien zuerst 1946 im Amsterdamer Verlag „Die Argonauten“ mit einer Vorbemerkung von R. van Rossum”“. Dieser preist das Büchlein als einen Ruf, zu Humanismus und Religion einzukehren, und weist auf Ernst Jüngers Kontakte zum Widerstand, zu Picasso und zum Anarchisten Erich Mühsam. Die Schrift sei bereits 1941 in ihren Grundrissen entworfen worden und habe 1943 in dieser Fassung vorgelegen. Jünger muss also die militärische Niederlage des Dritten Reiches schon sehr früh antizipiert haben. Die erste deutsche Ausgabe unter dem bescheideneren Titel Der Friede erschien erst 1964 beim Ernst Klett Verlag Stuttgart mit einem Geleitwort von Alfred Toepfer, einem ausgewiesenen Kultur- und Wirtschaftsapparatschik des nationalsozialistischen Staates mit einer später auch in der Bundesrepublik bewundernswerten Karriere. Toepfer lässt ebenso wissen, dass diese Schrift bereits im Sommer 1943 in ihrer endgültigen Form vorgelegen habe. Man habe sie in langen einsamen Zwiegesprächen konzipiert, in denen man sich insbesondere über die politischen Erfordernisse der Zeit und der Zukunft Gedanken machte. „Die wesentliche Aufgabe wurde in der völligen Überwindung von Nationalismus und Rassendünkel, das große politische Ziel in einem einheitlichen Europa nach dem Beispiel der USA oder der Schweiz gesehen, einem Europa, das von den Ideen menschlicher Freiheit, Toleranz und allgemeiner, vor allem auch sozialer Gerechtigkeit beherrscht sein sollte.“ Die Friedensbotschaft Ernst Jüngers ist eine explizite und implizite Verneinung der Alleinschuld Deutschlands für den Zweiten Weltkrieg und lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Dieser Krieg sei das erste allgemeine Werk der Menschheit gewesen (S. 12), er darfvon niemand verloren und muss von allen gewonnen werden, denn wenn er nicht durch alle gewonnen, er dann von allen verloren werden wird. (S. 30) Alle haben gelitten, alle haben Opfer gebracht, aber auch „einen Überfluß an wunderbaren Taten“ verrichtet. Daher darf es mit Blick auf die anstehende neue europäische Ordnung weder Sieger noch Besiegte geben. Diesem Leitgedanken entlang ist zwischendurch auch von Verbrechen und Grausamkeiten die Rede, deren Iriebfeder „Klassen- und Bluthaf“ diesseits und jenseits gewesen sei. Kommunisten wie Nazis also, die einen nicht besser als die anderen. Auch von Krematorien ist die Rede, von „Scharen“, die dort den Lumpen entkleidet und nackt gemeuchelt wurden: „Dort war das Lemurengesindel tätig, das seine grauenhaften Künste im Dunkeln treibt.“ (S. 21) Meint Jünger vielleicht die Vernichtungslager, waren Juden die gemeuchelten Scharen? Vielleicht. Er muss dann schon sehr früh davon erfahren haben, da angeblich seine Schrift bereits 1943 in dieser Form vorlag. Und gleich darauf relativiert er: „Und März 2020 37