es noch im geistigen Haushalt deutscher Intellektueller fortlebt,
und ist sich dabei keines Antisemitismus bewusst.
Der endgültige Bruch mit Rolf Schroers erfolgte direkt nach der
Lektüre seines Buches Der Partisan?°, das Celan am 3. November
1961 erhielt und sofort zu lesen begann. Seine Eintragungen und
Randnotizen könnte man, wie Barbara Wiedemann vermerkt,
als einen letzten, nicht abgesandten Brief oder Briefentwurf an
Schroers betrachten. (RF 592) Eine Notiz auf der Titelseite, ver¬
mutlich während oder unmittelbar nach einer schnellen ersten
Lektüre, lautet:
Nazitum heute: unsauber zitiertes Judentum, hineinanalysiert
in die Werwolf (Waldgänger)-Perspektive jüngerscher Provenienz.
Das „rote“ Reich, als Resultat terroristischer Zusammenarbeit von
Männerbünden. Blut und Boden mit Rene Char-Zitaten. (RF 227)
Die Notiz, besonders ihr erster Satz, liest sich wie ein Ideenent¬
wurfzum Gedicht Mit der Friedenstaube. Die Gestalt des Werwolfs
als Waldgänger ist bereits angedeutet, und der Bezug auf Ernst
Jünger ist schon da. Ein „unsauber zitiertes Judentum“ findet
sich aber im Text kaum?®, auch ein „rotes Reich“ kommt im Text
nicht vor. In seiner Notiz referiert Celan damit offensichtlich
auf außerhalb des Buches wahrgenommene „Umstülpungen des
Jüdischen“ und Äußerungen eines „roten Nationalsozialismus“.
Es handelt sich um ein zeitpolitisches Sachbuch, das sich als
anthropologische Studie des irregulären Widerstandskämpfers
präsentiert, eben des Partisanen im Zeitalter des Kalten Krieges
zwischen den zwei Machtblöcken, und es atmet unverkennbar den
Geist Ernst Jüngers. Schroers‘ „Partisan“ ist in seinen anthropolo¬
gischen Grundzügen Ernst Jüngers „Waldgänger“. (Jünger selber
nennt übrigens seine Figur auch „Partisan“.) So ist Schroers‘ Figur
des Partisanen als bodenständiger Einzelkämpfer für autonome
Selbstentwicklung konzipiert, der sein Recht, illegal gegen den
„artfremden Fremdherrn“ aufzutreten, mit seiner „ausgeprägten
Eigenart“ begründet und sich dabei auf „Art und Heimat“ beruft.
Er ist eine „Gegenfigur zur nach technischem Prinzip organisierten,
uniformen Welt“, hat „Art und Ort“, und sein Begriff ist „vor
allem durch den Widerstand gegen die Fremdherrschaft geprägt“.
(pp. 25, 26, 32, 48 u. a.) Worthülsen wie „heilige Gewißheit“,
„Geist der Nation“ u. 4. m. vervollständigen das Bild eines dem
völkischen Nationalismus verpflichteten Autors, der die Verbrechen
des Nationalsozialismus verabscheut, aber viele seiner Ideologeme
und Grundwerte teilt, und der es mit dem „Juden“ gut meint, ihn
aber krampfhaft „unterscheiden“ will, um ihn besser „sehen“ zu
können. Mehrmals bezieht sich Schroers auch auf Carl Schmitt,
mit dem er seit 1955 intensiv über den Partisanen spricht und bei
dem er sich ausdrücklich bedankt: „Sie wissen, daß Sie der eigent¬
liche Empfänger dieses Buches sind, es während der Niederschrift
bei jeder Zeile waren [...] Das Buch hätte ohne Sie nicht geschrie¬
ben werden können.“ Es wird wohl auch kein Zufall gewesen
sein, dass Carl Schmitt parallel zu Schroers selber an einer Studie
über den Partisanen schrieb. In Francos Spanien, wo er sich gern
aufhielt, hat Schmitt im Frühling 1962 zunächst zwei Vorträge
darüber gehalten und 1963 veröffentlichte er seine Studie unter
dem Titel Theorie des Partisanen: Zwischenbemerkung zum Begriff
des Politischen.°° Näher auf diese heute im Zusammenhang mit
dem sogenannten „Krieg gegen den Terrorismus“ erneut gelesene
Schrift einzugehen, würde vom Ihema wegführen. Wichtig ist
aber zu wissen, dass sich auch Schmitt seinerseits ausführlich auf
Jüngers „Waldgänger“ und Schroers‘ „Partisanen“ bezieht und dass
seine Studie von einem intensiven Gedankenaustausch zwischen
den drei Autoren zeugt.” Auffallend ist auch, wie Carl Schmitt
Jüngers und Schroers‘ Figuren des Waldgängers und des Partisa¬
nen verstanden hat, denn in der Forschungsliteratur werden sie
vorrangig als existentialistische Einzelkämpfer für die Autonomie
des Individuums wahrgenommen, das sich gegen das Diktat des
Kollektiven stellt. Schmitt rezipiert Jüngers Waldgänger an erster
Stelle als heroischen Widerstandskämpfer für den nationalen
Boden: „Die autochthonen Verteidiger des heimatlichen Bodens,
die pro aris et focis starben, die nationalen und patriotischen
Helden, die in den Wald gingen, alles, was gegenüber der fremden
Invasion die Reaktion einer elementaren, tellurischen Kraft war“,
etc. (S. 77) Wie auch Jünger meint Carl Schmitt, Schroers habe
im Partisanen „den letzten Widerstand gegen den Nihilismus
einer durchtechnisierten Welt erblickt, den letzten Verteidiger
von Art und Boden“. (S. 24, Anm. 13) Mit seiner Notiz („Blut
und Boden“) scheint Celan ihm diese Lektüre voll zu bestätigen.
Vor diesem Hintergrund ließe sich ein Referenzrahmen abstecken,
in dem weitere Verweisungsbezüge zum Vorschein treten, die für
Sinn und Bedeutung des Gedichtes Mit der Friedenstaube relevant
wären. Indem Celan in der ersten Strophe zwei signifikante Texte
Ernst Jüngers miteinander verklammert, integriert er in der Gestalt
des Werwolfs den Mann mit der Friedenstaube aus Der Friede und
den Waldgänger aus Der Waldgang. Der mit der Friedenstaube ist
der Werwolfin anderer Gestalt: „Dasselbe Unheil nimmt andere
Gestalten an“ — lautet ein Zitat von Karl Jaspers, das Celan in
einem Brief an Hans Habe vom 3. Dezember 1962 anführt.“
In diesem Sinne ist der Werwolf-und-Waldgänger auch ein Wi¬
dergänger, der nun als Friedensbote getarnt aus dem Grabe sein
Unwesen treibt. Die dreifache Alliteration bei der dichterischen
Gestaltung des Werwolfs trägt, wie bereits erwähnt, wesentlich
zu seiner bildhaften Prägnanz bei. Es mag ein Zufall sein, aber
auch Jünger greift zu dieser „wölfischen“ Alliteration, als er im
Waldgang über die Möglichkeit räsoniert, verschiedene Zeichen
zu gebrauchen, um in einer Diktatur merken zu lassen, dass die
Unterdrückung nicht völlig gelungen sei. Dazu gehöre z.B. das
Wörtchen „Nein“, schreibt Jünger, und in einem Anflug poetischer
Sprachzuwendung schlägt er allen Ernstes folgendes vor: „Man
könnte noch weiter abkürzen und statt des ‚Nein‘ einen einzigen
Buchstaben setzen — nehmen wir an, das W. Das könnte dann etwa
heißen: Wir, Wachsam, Waffen, Wölfe, Widerstand. Es könnte
auch heißen: Waldgänger.“ (16f., Hervorhebung im Original)
Die Gestalt des Werwolfs mit der Friedenstaube referiert auch
auf Rolf Schroers, der sich als liberal gab und später politisch in
der FDP aktiv war. Außerdem war er in der Friedensbewegung
engagiert, deren Symbol die Friedenstaube ist, und trat in Orga¬
nisationen gegen die Atomrüstung auf. Schroers‘ Begeisterung
für Ernst Jünger und Carl Schmitt im gleichzeitigen Engagement
für den Frieden und gegen die Atomrüstung wären Grund genug
für Celan, ihn als einen „Werwolf mit der Friedenstaube“ wahr¬
zunehmen. Eine Stelle aus dem Brief an Hans Habe (s. Anm. 48)
scheint sich auf ihn zu beziehen: „Ich beobachte mit wachsender
Beunruhigung das Wiederaufleben jenes sich ‚liberal‘ gebenden
Antisemitismus in Deutschland (und anderswo), der sich jazum