Die Wer¬
und Kunkelwölfe
die Wechsel- und Alibibälge
(PCW 11, S. 474)
Es ist ein Fragment von geballter poetischer Wucht. Nach dem
Muster von „ein Wald- ein Widergänger“ im Gedicht Mit der
Friedenstaube werden hier Werwölfe und Kunkelwölfe einer¬
seits, Wechselbälge und Alibibälge andererseits paarweise durch
Ergänzungsstrich zusammengefügt und aufeinander bezogen.
Wie könnte man diese dichterische Idee — denn mehr ist dieses
Bruchstück freilich nicht - interpretieren? Ein Wechselbalg ist nach
Grimms Wörterbuch „die bezeichnung eines von einem unhold
erzeugten und an stelle eines menschenkindes der wöchnerin
untergeschobenen kindes“, das ein auch moralisch missratenes
und bösartiges Wesen sei. Einen Balg nennt man abwertend
ein (missratenes) Kind oder Knaben. Der Kritiker Hans Egon
Holthusen, der selber auch Gedichte schrieb, nannte 1955 die
sogenannten Genetivmetaphern Paul Celans „poetische Wech¬
selbalge“.” Besonders auffallend sind „die Bälge“ im Gedicht
Huhediblu (PCW 6.1, S. 77ff.):
Und — ja —
die Bälge der Feme-Poeten
lurchen und vespern und wispern und vipern, episteln.
„Poet“ hat bei Celan eine abwertende Konnotation, ein Poet
ist eben kein Dichter?', während „Feme“ auf die sogenannten
Fememorde deutschnationaler Untergrundbewegungen in der
frühen Weimarer Republik verweist. Der Vers „die Bälge der
Feme-Poeten“ lautet in den Vorstufen noch „die Söhne der Feme¬
Poeten“ — ein Hinweis, dass auch hier die Bälge im Sinne von
Söhnen oder (geistigen) Abkömmlingen gemeint sind. (PCW 6.2,
S. 248-259) Auf Geheiß der Feme-Poeten, die ihre geistigen Väter
sind, vollstrecken diese Bälge, lurchend, vespernd und wispernd,
den Fememord am Dichter.” Auch die Wechsel- und Alibibäl¬
ge im dichterischen Fragment sind die geistigen Abkömmlinge
und Geschöpfe der Wer- und Kunkelwölfe. Sie sind ihre Bälge
und Kielkröpfe, ihre Jünger. Sie stehen ihnen als Wechselbälge
zu Diensten, und als Alibibälge sind sie in irgendeiner Weise
das Alibi der Kunkelwölfe. Sie lassen sich von ihnen als Alibi
benutzen oder sie verschaffen ihnen ein Alibi. Der Schriftsteller
Ernst Jünger, der jedes neue Buch mit einer Widmung an den
Führer versah und es ihm schickte; der manische Antisemit und
Staatsrechtler Carl Schmitt, der sich an die Legitimierung des
Führerstaates verausgabte: sie hatten und haben ihre zahlreichen
Bälge, die ihnen auch heute ein Alibi als Nazigegner verschaffen.
Man kennt auch den Begriff des Alibijuden, der hier anklingt:
der Wer- und Kunkelwolf besorgt sich einen jüdischen Freund,
der ihm das philosemitische Alibi verschafft, sollte man ihm an¬
tisemitische Gesinnung vorwerfen. In seinem Brief an Theodor
Adorno vom 21. Jänner 1962 meint Celan, er werde selber dazu
benutzt: „Woran ich die Herrschaften erkenne? Nicht nur an
den Zwangshandlungen, die bewirken, daß sie, kaum haben die
mich polnisch-welschen Juden oben- oder untenhinaus — auf
das unblutig-toleranteste! — abgeschoben, sich stantepede (d.h.
stehender Klaue) das philosemitische Alibi verschaffen.“ (GA, 548)
Die „Werwolf-Gedichte“ Celans, entstanden zwischen August
1962 und Februar 1963, blieben Nachlassgedichte. Keines wurde
in die Niemandsrose (1963) aufgenommen, nur Mit der Friedens¬
taube wurde kurz in Erwägung genommen und dann verworfen.
Über die Gründe könnte man nur spekulieren. Möglicherweise
störten sie den ästhetisch gründlich durchdachten zyklischen
Aufbau der Niemandsrose, möglich ist freilich auch, dass Celan sie
einfach nicht gut genug fand. Sie bezeugen aber wichtige poeto¬
logische und zeitkritische Positionen des Dichters zu einer Zeit,
da der Nationalsozialismus in Westdeutschland neu aufzuleben
schien, sich unter dem erdrückenden Gewicht der Goll-Affäre
Celans psychische Verfassung rapide verschlechterte und mehrere
Freundschaften in die Brüche gingen. Darunter auch die Freund¬
schaft mit Rolf Schroers, der Celan vor Augen führte, dass das
Wald- und Widergänger-Gedankengut eines Ernst Jünger und
Carl Schmitt keineswegs der Vergangenheit angehörte.
Germinal Civikov, Literaturwissenschaftler und Publizist, geb.
1945 in Bulgarien, Studium der Germanistik und Slawistik in Sofa
und nach seiner Emigration 1975 in Leiden (Niederlande). 1982
Dissertation über Paul Celan, ab 1988 bis zu seiner Pensionierung
Rundfunkredakteur bei der „Deutschen Welle“, Köln.
Der vorliegende Beitrag ist eine vom Autor gekürzte Fassung des
Erstdrucks, erschienen unter demselben Titel 2018 in: Celan-Jahr¬
buch 10. Hg. von Hans-Michael Speier. Würzburg: Königshausen
& Neumann.
Siglen oft zitierter Werke
(Seitenangabe im Text)
GA - Barbara Wiedemann: Die Goll-Affäre - Dokumente einer
‚Infamie‘. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2000.
HKA - Paul Celan: Historisch-kritische Ausgabe. Hg. v. der Bon¬
ner Arbeitsstelle für die Celan-Ausgabe. Suhrkamp, Frankfurt/M.
1990 — 2006.
PC/GN - Paul Celan: Die Gedichte aus dem Nachlass. Hg. v.
Bertrand Badiou, Jean-Claude-Rambach u. Barbara Wiedemann.
Suhrkamp, Frankfurt/M. 1997.
PC/GCL - Paul Celan — Gisele Celan-Lestrange: Briefwechsel.
Hg. u. komment. v. Bertrand Badiou in Verbind. m. Eric Celan.
Mit einer Auswahl von Briefen Paul Celans an seinen Sohn Eric.
Aus d. Französ. v. Eugen Helmle. Anmerk. übertr. u. einger. v.
Barbara Wiedemann. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2001.
PC/KND - Paul Celan - Klaus und Nani Demus: Briefwechsel.
Mit einer Auswahl aus dem Briefwechsel zwischen Gisele Celan¬
Lestrange und Klaus und Nani Demus. Hg.v. Joachim Seng.
Suhrkamp, Frankfurt/M. 2009.
PCM - Paul Celan: Der Meridian. Endfassung — Entwürfe —
Materialien. Hg. v. Bernhard Böschenstein u. Heino Schmull,
unter Mitarbeit v. Michael Schwarzkopf u. Christiane Wittkop.
Tübinger Ausgabe, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1999.
Mikrolithen — Paul Celan: »Mikrolithen sinds, Steinchen‘. Die
Prosa aus dem Nachlaß. Kritische Ausgabe. Hg. v. Barbara Wie¬
demann u. Bertrand Badiou. Suhrkamp, Frankfurt/M. 2005.
RF — Paul Celan — Heinrich Böll, Paul Schallück, Rolf Schroers.
Briefwechsel mit den rheinischen Freunden, Hg. von Barbara
Wiedemann. Suhrkamp, Berlin 2011.