dass ich meinen Großvater einmal fragte, warum ihm das Jüdische
anscheinend nicht so wichtig war, worauferantwortete: Ich bin kein
Jude, ich bin ein Mensch.“ An wen richtet sich dieser Ausspruch?
An die Antisemiten? Oder wollte der Großvater Forderungen, die
von Juden an ihn als Juden herangetragen wurden, zurückweisen?
Wie klingt dieser Ausspruch für jemanden, der/die als Jude/Jüdin
verfolgt wird? Kann man sich das aussuchen: Jude oder Mensch?
Viel gäbe es noch herauszugreifen. Etwa die pornografische Er¬
mordungs- und „Beerdigungs“-Szene von Rinnans Geliebtes, dieihn
verlassen hatte. (S. 304-305) Oder die erzählerische Schlamperei,
dass Gerson in einer Hütte während einer Wandertour mit Studen¬
Unnen telefonisch über die Ermordung seines Vaters informiert
wird — wiewohl einige Seiten zuvor der Autor seinen Vater denken
lässt, dass er auch wegen seinem Sohn Gerson nicht flüchten kann,
denn: Dieser ist auf einer Wandertour und nicht erreichbar. (S. 73
und S. 13)
„Vergesst unsere Namen nicht“ ist eine Kompilation zum The¬
ma Holocaust und Kollaboration, die, salopp ausgedrückt, an ein
Fußballmatch zwischen NS und Widerstand erinnert, dazwischen,
eigentümlich fehl am Platz, die Juden, mit dem Antimobbingbeauf¬
tragten in der Person Strangers als Schiedsrichter: Der Autor schreibt
tatsächlich zu Rinnans Gefangennahme: „[Er] kann erkennen,
wie Verachtung und Schadenfreude aus einigen von ihnen [den
norwegischen Polizisten] förmlich herausstrahlen, genau wie bei
dem Polizisten, der ihn in Empfang nimmt und grob am Oberarm
packt.“ (S. 331-332) Und DAMIT lässt der Autor den Kreis sich
schließen zu Rinnans Kindheit und Jugend: Auch da war er verachtet
worden, auch da gab es Schadenfreude.
Nun könnte man ja tatsächlich Mobbing zum Thema machen,
nämlich jene Übereifrigkeit, Kinder aus NS-Verbindungen in der
Nachkriegszeit auszugrenzen — bei gleichzeitig vernachlässigter
Aufarbeitungund Verurteilungdes Antisemitismus sowie der Verstri¬
ckung norwegischer Behörden in die Verfolgung von Jüdinnen und
Juden. Erst Ende der 90er sollte sich das ändern. Aufwerfen könnte
man unter Ausgrenzung auch den Umgang mit den Fluchthelfern
im Norden Norwegens, die nach dem Krieg schändlich behandelt
wurden — ein Großteil von ihnen Samen.!’ Samen müssen noch
heute um ihren Platz in der norwegischen Gesellschaft kämpfen.
Meiner Einschätzung nach kredenzt Simon Stranger eine Suppe,
von der er meint, dass sie schon längst ausgelöffelt ist. An dieser
Stelle möchte man dem Autor — allen AutorInnen, die sich mit
Antisemitismus beschäftigen — den in Zwischenwelt Nr. 1-2, Juli
2019, erschienenen Beitrag von Martin Auer „Antisemitismus ist
keine Frage der Wahrnehmung, sondern eine Frage der Interessen“
ans Herz legen.
Auch ans Herz legen möchte man eine feministische Analyse der
Geschlechterbeziehungen, nicht nur, aber auch beim Thema Ver¬
drangung und Trauma. Diese hatte sich nicht nur auf die Darstellung
von Ellen, sondern auch auf die Prasenz ihrer Kinder Jannicke und
Grete im Buch ausgewirkt: Sie bleiben in „Vergesst unsere Namen
nicht“ trotz diverser Anekdoten seltsam außen vor. Vielleicht auch
deshalb, weil Stranger seine Figuren gerne „denken“ lässt-und dabei
entschwinden ihm die Kinder, die ja nicht „denken“?
Und es wäre wirklich schön, wenn eine Frau nicht Seiten lang
„zappeln“ muss, bevor sie sterben darf. (S. 302-306) Ich erinnere
hiermitan ein Interview mit Stranger, in dem er sagte, er wollte einen
„schönen Roman über grausame Dinge“ schreiben.
Die Frage, WARUM die norwegische Literaturkritik (nebst der
deutschen... ) das Buch derart mit Lob überhäuft, und kritische
Stimmen so gut wienichtzu hören sind-undauchnichtin Erfahrung
zu bringen sind, meine diesbezüglichen Anfragen an verschiedene
ForscherInnen in Norwegen liefen ins Leere -, wäre jedenfalls eine
eigene Untersuchung wert.
Simon Stranger: Vergesst unsere Namen nicht. Aus dem Norwegischen
von Thorsten Alms. Frankfurt/M.: Eichborn Verlag 2019. 350 S.
Originalausgabe 2018 im Aschehoug Verlag unter dem Titel „Leksikon
om lys og morke“ (Lexikon über Licht und Dunkelheit).
Laut dem norwegischen Arkivverket lebten Gerson und Ellen Kommissar in
Jonsvannsveien 46, Trondheim, wie ein Eintrag im Trondheimer Telefonbuch
1952 zeigt. Korrespondenzvom 11.2.2020: „Ihenhold til Trondheim adressebok
1952 bodde Gerson og Ellen Kommissar i Jonsvannsveien 46: Nasjonalbiblio¬
teket“ (samt Auszug der entsprechenden Seite vom Telefonbuch).
Bjarte Bruland: Holocaust in Norwegen: Registrierung, Deportation, Vernich¬
tung. Aus dem Norwegischen von Jochen Pöhlandt. Göttingen: Vandenhoeck
& Ruprecht 2019. (Norwegisch Dreyers Forlag, Oslo 2017).
Robert Ferguson: Knut Hamsun. Leben gegen den Strom. Biographie. Aus
dem Englischen von Götz Burghardt. München: List 1990. (Englisch 1987).
Neerland Soleim, Marianne/Nergärd, Jens-Ivar/Andersen, Oddmund: Grenselos
igrenseland: samisk og norsk losvirksomhet i Nordre Nordland og Sor-Troms,
1940-1945. Stamsund: Orkana Akademisk 2015. 223 S. (Grenzlotsen im
Grenzland: Samische und norwegische Fluchthilfe im Nordre Nordland und
Sor-Iroms).
Norwegisches Widerstandsmuseum http://forsvaretsmuseer.no/Hjemme¬
frontmuseet
Claudia Schoppmann: Das war doch jenseits jeder menschlichen Vorstellungs¬
kraft. Hilfe für verfolgte Juden im deutsch besetzten Norwegen 1940-1945.
Berlin: Lukas Verlag 2016. 232 S.
Max Tau: Trotz allem! Lebenserinnerungen aus siebzig Jahren. Hamburg:
Siebenstern Taschenbuch Verlag, um 1980. 286 S.
Vortrag von Dr. Arnim Lang über „Norwegen als unbewußtes Problem: Be¬
merkungen zum deutsch-norwegischen Verhältnis im ersten Jahrzehnt nach
dem Zweiten Weltkrieg“
https: //tysklandsbrigaden.no/Publikasjonar/FraOkkupasjonTilSamarbeid/B
emerkninger.html (Leider gelang es mir nicht, mit Dr. Arnim Lang, der bereits
in Pension ist, Kontakt aufzunehmen.)
1 https: //www.nzz.ch/gesellschaft/nordische-ureinwohner-die-rentiere-sterben¬
und-wir-mit-ihnen-ld. 147385
2 https://www.facebook.com/verddeviessu.samiguovddas VERDDEVIESSU
Samisches Zentrum gegen Diskriminierung und Rassismus; http://verddeviessu.
blogspot.com/
3 https://no.wikipedia.org/wiki/Sonderabteilung_Lola
4 https://snl.no/antifascisme
5 Bruland 2019, $.91. Das Gedicht wurde in der Sammlung „Friheten“, Oslo:
Gyldendal 1945, . 11-13, gedruckt.
6 https://nbl.snl.no/Nordahl_Grieg
7 Schoppmann 2016, S. 18; https://snl.no/l%C3%AG6rerstriden; https://www.
utdanningsnytt.no/historie/markerte-laerernes-nei-til-nazifisering/ 179107;
https://www.utdanningsforbundet.no/nyheter/2017/farfar-og-larer/
8 https://snl.no/Einar_Mus%C3%A6us_H%C3%B8ig%C3%A5rd
9 https://www.utdanningsnytt.no/fagartikkel-historie/na-kommer-den-forste¬
filmen-om-laereraksjonen-under-krigen/ 169402
10 https://www.uio.no/om/tall-og-fakta/slik-forandret-uio-norge/nazistene¬
stengte-uio.html
11 Korrespodenz vom 14.2.2020 mit Hanne Rollagvom Hjemmefrontmuseum
Oslo: „Tyske myndigheter i Norge hadde bestemt at det var forbudtä reise seg
fra sin plass pä trikken hvis en tysker satte seg pa setet ved siden av. Dette sä de
pä som en demonstrasjon.“ (Übers. Sonja Pleßl).
12 https: //www.utdanningsnytt.no/fagartikkel-historie/na-kommer-den-forste¬
filmen-om-Jlaereraksjonen-under-krigen/169402
13 https: //dgh1942.no/laereraksjonen/
14 https://www.ude.oslo.no/Oslo-patriot/th35.html
15 https://www.rb.no/carl-fredriksens-transport-krigens-storste¬
redningsbragd/s/5-43-122236
16 https://social.shorthand.com/smharnes/3¢Xtlzyp9j/tibor-og-veras-siste-reise
17 https://en.uit.no/nyheter/artikkel?p_document_id=406292