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NEUE TEXTE

Günther Anders

Seit dem Tode ihres Erzeugers hatten die drei Brüder Han, von
denen jeder zu wissen meinte, dass er den echten Ring aus den
Händen seines sterbenden Vaters empfangen hatte, einander ge¬
mieden. In der Tat hatten sie seit diesem Tage, freilich ohne sich
das einzugestehen, auch ihres Vaters nicht mehr in ungetrübter
Liebe gedacht, da dieser sie auf so unbegreiflich hinterhältige
Weise in seinen letzten Augenblicken betrogen und dadurch ihre
brüderliche Verbundenheit zerstört hatte.

Gleichviel, am Morgen des Tages, an dem sich ihres Vaters Tod
zum ersten Male jährte, geschah es, dass sich die drei — ob nur
zufallig, das bleibe dahingestellt — doch trafen: eben am Grabe ihres
Vaters, um dort niederzuknien und ihr Gebet zu verrichten. Aber
obwohl sie sich so zu benehmen versuchten, als wenn sie einander
nicht bemerkten, und obwohl jeder sein Gebet solistisch begann,
konnten sie es doch nicht verhindern, dass ihre drei Stimmen bald
zu einem einzigen Gesang zusammenflossen und dass sie diesen
schließlich gleichzeitig höchst harmonisch beendeten.

Diesen zugleich schwierigen und rührenden Moment — wirklich
schien es ihnen nur noch schwer möglich, nun wieder verfeindet
in drei verschiedene Richtungen auseinanderzugehen -, diesen
Moment also benutzte der Älteste, um ihnen vorsichtig eine Idee
zu unterbreiten. Er sei überzeugt davon, sprach er mit vor Rüh¬
rung belegter Stimme, dass sie, seine Brüder, genauso wie er, die
Spannung zwischen ihnen als täglich peinigender empfänden.
Was ihn selbst betreffe, so sei er bereit, etwas zu wagen: nämlich
die Entscheidung über die Echtheit oder Unechtheit ihrer fatalen
Ringe in die Hände eines Sachverständigen zu legen, dessen Gut¬
achten, wie immer dieses ausfallen sollte, anzuerkennen und dann
das alte einträchtige Leben mit ihnen von neuem aufzunehmen.
Ob sie diesen Vorschlag, den ihm die Bruderliebe eingegeben
habe, akzeptieren könnten.

Nun, dass die zwei nicht lange zögerten, das hat, wenn man
bedenkt, dass sie so wenig wie der Sprecher fürchten zu müssen
glaubten, bei dieser Konsultation ein Risiko einzugehen, nicht
verwundert. Das Gegenteil wäre erstaunlicher gewesen. Zwar
fielen sie sich noch nicht in die Arme, aber ihren Rückweg in
die Stadt traten sie nun doch schon gemeinsam an, einigten sich
auch unterwegs rasch auf den kleinen Herrn Hunhun, von der
wohlrenommierten Juwelenfirma Hunhun und Söhne, der nicht
grundlos „der Unbestechliche“ hieß, und verabredeten schließlich,
sich am nächsten Morgen gemeinsam nach Molussia City zu
begeben, um dort Herrn Hunhuns Urteil entgegenzunehmen.
Dass das gewiss nicht geringe Honorar für diese Expertise von
dem Eigentümer des echten Ringes übernommen werden würde,
empfanden alle drei als fair.

Als die drei am nächsten Nachmittag, übrigens auf sehr ähnliche
Weise siegessicher aussehend, das Kontor des Herrn Hunhun
betraten, forderte dieser, etwas erstaunt an den riesigen Männern
hinaufblickend, sie höflich auf, Platz zu nehmen: Was er für sie tun
könne? Nachdem der Älteste ihr, wie er gleich vorwegnahm: „nicht
ganz alltägliches Anliegen“ (die zwei Jüngeren nickten) vorgetragen
hatte, streiften die drei wie auf Kommando ihre drei Ringe von

den Fingern und schoben diese (wie der Knirps, dessen Kopf
kaum über die Tischplatte ragte, sofort mit Erstaunen feststellen
konnte, völlig gleichartigen) Stücke zur gefälligen Begutachtung
Herrn Hunhun entgegen. Und warteten.

Nun, wenn Herr Hunhun sie tatsächlich warten ließ und, sie
dabei forschend anblickend, umständlich seine Lupe zu putzen
begann, so tat er das nicht etwa deshalb, weil er an der Richtigkeit
seines ersten Eindrucks Zweifel hegte — die Qualität der Ringe
zu erkennen, erforderte wahrhaftig kein Hilfsgerät —, sondern
ausschließlich deshalb, weil er sich klar darüber werden wollte,
ob er den wirklich nicht ganz alltäglichen Kunden höflich die
Wahrheit sagen, oder wie er sie, ohne ihnen eine Antwort zu geben,
hinauskomplimentieren könnte. Einen Moment lang schoss ihm
sogar der Argwohn durch den Kopf, dass sich die drei Herren —
aber wie kamen die nur dazu? — einen dummen Scherz mit ihm
erlaubten. Aber diesen Verdacht musste er doch - und das schien
ihm sogar schlimmer — nach einem weiteren forschenden Blick auf
sie, die jeder seiner Bewegungen mit unbestreitbarer Spannung
folgten, von sich weisen.

Da entschloss er sich, um Zeit zu gewinnen, seine Lupe wirklich
ins Auge zu klemmen und die billigen Stücke, dergleichen er nie
zu vor in solcher Vergrößerung vor sich geschen, aufs penibelste
durchzuuntersuchen. „Gar nicht so uninteressant!“ murmelte er
mehrere Male, und das vielleicht nicht nur, um Zeit zu gewinnen,
sondern vielleicht auch deshalb, weil die drei Stücke tatsächlich
nicht den mindesten Unterschied aufwiesen und weil die um ein
Zehnfaches vergrößerten Bilder von nichtigen Objekten für ihn
etwas total Neues waren.

Aber nicht nur er wurde von Sekunde zu Sekunde nervöser,
auch sie gerieten in Aufregung, mit offenen Mündern folgten sie
nun jeder seiner Bewegungen, um in Evidenz zu halten, welcher
Ring wem gehörte — und wenn sie da nicht mehr mitkamen, so
war das kein Wunder, denn Herr Hunhun gab schr begreiflicher¬
weise überhaupt nicht Acht darauf, in welcher Reihenfolge er die
Stücke ablegte; warum hätte er das denn auch tun sollen, da sie
sich ja überhaupt nicht voneinander unterschieden? Gleichviel,
vorgebeugt, mit offenen Mündern und die Rechten griffbereit
auf der Tischplatte, saßen sie da, so als wollten sie diesen ihnen
unerträglichen Vorgang unterbrechen. Und endlich entschloss sich
der Älteste wirklich. „Nun?“ fragte er, und seine Stimme klang
um so ominöser, als er sich auf dieses eine Wort beschränkte.

Herr Hunhun nahm die Lupe aus dem Auge und hob seinen
Blick. Nun erst wurde er ihrer Aufregung gewahr.

„Und welcher ist nun der echte?“ fragte der Zweite.

Herr Hunhun machte ein Gesicht, als wollte er sich entschul¬
digen.

„Und welcher ist nun meiner?“ fragte der Dritte.

Da gab Herr Hunhun, da er einen geraden Ausweg aus dieser
Kalamität nicht sah (und wahrscheinlich gab es einen solchen
auch gar nicht), eine Antwort, die, da sie die drei Fragen verfehlte,
seine Lage noch heikler machte. „Ich bin überzeugt davon, meine
Herren“, begann er, und er versuchte sogar, Wärme in seine Stimme
zu legen, „dass für Sie drei jedes der drei Stücke unersetzlich ist

März 2020 55