Lara Marie Schabauer
Gemeinsam fremd
I.
Er richtete sich auf. Sein Riicken fiihlte sich starr an wie der
Holzboden, auf dem er lag. Die feuchte Kälte kroch unter sein
Nachthemd und ließ seine Brustwarzen hart werden. Doch we¬
nigstens war es ruhig. Und Ruhe lernte er in diesen Tagen genau
so sehr schätzen, wie sie ihn innerlich auch zermürbte.
Neben ihm schlief seine Frau, rundherum die Kinder. Ihr Atem
ging gleichmäßig, ab und an brabbelte jemand ein paar Worte. Als
er die Kleinste anblickte, kroch ein Gefühl des Versagens in ihm
hoch. So viel hatte er geleistet, wollte seiner Familie einmal etwas
Besseres bieten. Doch heute ging es ihnen schlechter als damals, er
musste dankbar sein, dass sie ein Dach über dem Kopf hatten. Das
Kind seufztetiefauf und drehte sich schlaftrunken zur anderen Seite.
Er zwang sich zur Konzentration. Heute war sein erster Tag,
und er musste alle Energie in die Arbeit stecken. Er wusste, wie
wichtig das Geld für seine Familie war. Entschlossen stand er auf
und verließ den Raum.
„Guten Morgen! Mein Name ist Josef Stallmayı, ich bin euer
Vorgesetzter. Wenn Sie hier arbeiten wollen, müssen Sie zäh und
schnell sein! Ich weiß, dass sie alle die Arbeit hier bitter nötighaben,
also rate ich Ihnen, mich nicht zu enttäuschen!“ Wie ein aufzie¬
hendes Gewitter donnerte ihnen die Willkommensrede entgegen.
Der Chef scheuchte seine neuen Untergebenen in den Eiskeller
hinunter. Die dort werkenden Kameraden wiirdigten sie nicht
eines Blickes.
Erst am Mittagstisch wandte sich sein Gegenüber mit gesenkter
Stimme an ihn: „Du. Weißt du, wer hier vor uns gearbeitet hat?“
Angedeutetes Kopfschütteln. Sein Kollege machte eine bedeutungs¬
volle Pause. „Die zum Tode verdammten KZ-ler.“ Er schaute ihn
vielsagend an. Ernsts Miene verfinsterte sich und er sprach den
ganzen Tag kein Wort mehr.
II.
Eine Armlänge hinter sich ertastete sie nur den harten Boden.
Ernst musste bereits fort sein. Sie hatte ihn gar nicht gehört, als er
aufgestanden war. Dabei hätte sie ihm gerne noch einen aufmun¬
ternden Kuss gegeben. Sie war sicher, er hätte noch Zeitgebraucht,
den Krieg gänzlich hinter sich zu lassen.
Es war seltsam zwischen ihnen, seit sie wieder vereint waren.
Natürlich war da zuerst die unermessliche Erleichterung gewesen.
Was für ein Glück sie hatten, sich gesund wiederzusehen! Als sie
mitden Kindern die Flucht hatte antreten müssen, dachte sie nicht,
dass sie ihren Mann je wiedersähe. Sie hatte begonnen sich auf das
Schlimmste einzustellen.
Es war ihr schwer gefallen sich auf die harte Fabrikarbeit zu
konzentrieren, während sie sich unaufhörlich um die Kinder sorgte
und die ständige Ungewissheit an ihr nagte. Aber der Mutter¬
instinkt, so glaubte sie, habe sie das andauernde Schuften und die
wenigen Stunden Schlaf aushalten lassen. Eine Mutter gibt alles
für ihre Kleinen.
Manchmal war sie so erschöpft, dass sie nicht einmal mehr die
Kraft hatte, an Ernst zu denken.
Tat sie es doch, fürchtete sie, im nächsten Moment zu zerreißen.
Jetzt, da sie wieder beisammen waren, hätte sie glücklich sein
müssen.
Doch egal, wie schr sie es versuchte, egal, wie nahe sie beiein¬
ander lagen, es fühlte sich an, als wären sie immer noch tausende
Kilometer voneinander entfernt.
Wann würde es nur endlich wieder so sein wie früher?
„Mama?“, unterbrach Maria ihre Gedanken: „Istheute der Tag?“
„Ja mein Schatz heute ist es so weit. Du beginnst mit der Schule!
Aber keine Angst — Anna, Paul und Michael kommen ja mit!“ Sie
schenkte Maria ein aufmunterndes Lacheln.
II.
Unser Klassenzimmer war richtiggroß und jeder hatte sogar einen
eigenen Tisch. Trotzdem war ich furchtbar aufgeregt. Was, wenn
mir die Lehrerin eine Frage stellt, die ich nicht beantworten kann?
Dann würden sicher alle über mich lachen! Am liebsten hätte ich
mich unter einer Decke versteckt oder zumindest unter dem Tisch.
Aber dann fiel mir wieder ein, was Mama gesagt hatte. Also ließ ich
es bleiben. Die erste Stunde hatte ich Glück - die Lehrerin erklärte
uns etwas über das Schulhaus und wie wir uns benehmen sollten.
Dann klingelte es zur Pause. Am Schulhofstand ich etwas abseits
und schaute mich suchend nach meinen Geschwistern um. Als ich
sie nicht finden konnte, spürte ich schon einen dicken Kloß im
Hals. Die Tränen schossen mir in die Augen, als mich plötzlich
jemand anstupste. Überrascht drehte ich mich um und sah ein
Mädchen. Ich glaube, es war eines aus meiner Klasse. Sie lächelte
mich schüchtern an. „Hallo, ich bin Elfie.“ Vor Überraschung und
Freude hätte ich beinahe meinen Namen vergessen.
Elfie war toll! Wir verstanden uns auf Anhieb prächtig, denn
sie war lustig und mochte fast immer die gleichen Spiele wie ich.
Als der Schultag vorbei war, holte Mama mich, Anni, Pauli und
Michi ab.
„Mama schau mal, dort drüben ist Elfie, meine neue Freundin!“
rief ich ihr zu und deutete quer durch den Raum. Elfie musste
die gleiche Idee gehabt haben, denn sie zog eine Frau mit einem
Gewand, das Mamas Sonntagskleid glich, in unsere Richtung.
Wir strahlten uns an und ich lief Elfie entgegen, als sie plötzlich
die verkehrte Richtung einschlug. Was war denn jetzt los? Wollte
Elfie doch nicht zu mir? Ich entdeckte die Hand der Sonntags-Frau
auf Elfies Schulter. Die beiden standen jetzt bei einem anderen
Mädchen aus unserer Klasse, aber Elfie sah nicht mehr so fröhlich
aus wie zuvor. Was hatte sie denn? Und warum kam sie nicht zu mir?
Ich wollte gerade loslaufen, aber Mutter hielt mich am Arm
zurück. Sie zog mich zu sich heran, drückte mich ganz fest. Dann
stand sie auf und zog uns ohne ein weiteres Wort zur Tür hinaus.
Warum wollte sie denn nicht, dass ich zu Elfie gehe? Irgendwie
kam mir Mama komisch vor. Außerdem wirkte sie so groß. Ging
sie heute besonders aufrecht?
Lara Marie Schabauer, geb. 2000 in Salzburg, lebt in Oberndorf bei
Salzburg. Sie besucht die HLWM AnnahofSalzburg mit Schwerpunkt
auf Kommunikation und Mediendesign. Die Leidenschaft für das
Schreiben begleitet sie seit ihrer Kindheit. 2019 erreichte sie das Finale
des Literaturwettbewerbs des Vereins der Literarischen Bühnen Wien.