und einen von einem Fremden wie mir gar nicht abschätzbaren
und nachfühlbaren Pietätswert besitzt.“
Sie blickten stirnrunzelnd einander an.
„Meine Antwort ist unzweideutig“, fuhr Hunhun beteuernd
fort. „Der Pietätswert der drei Stücke ist außerordentlich hoch.
Aber eben gleich hoch. Und aus diesem Grunde kommt es nur
wenig darauf an, wer welchen Ring liebevoll nach Hause trägt.“
Und so, als hätte er damit alle Probleme ausgeräumt, schob er die
Stücke ihnen entgegen und schloss mit den Worten: „Von Honorar
kann bei der Kürze meiner Dienstleistung natürlich keine Rede
sein.“ Und erhob sich, in der Hoffnung, rückwärtsgehend noch
heil das Hinterzimmer zu erreichen.
„Halt!“ rief da der Älteste, und er sprang auf, und seine zwei
Brüder zur Rechten und zur Linken standen auch schon.
Von neuem bestürzt über die Größe der drei, vergaß Hunhun
seine Hoffnung. Er war gelähmt.
„Nun?“ fragte wieder der Erste.
„Und welcher ist der echte?“ der Zweite.
„Und wem gehört welcher?“ der Dritte.
Herr Hunhun bewegte vergebens seine Lippen, bis er sich, eher
aus Entmutigung als aus Mut, dazu entschloss, die Flucht nach
vorne zu wagen. „Ja, wenn Sie durchaus die Wahrheit zu wissen
wünschen“, begann er, kaum hörbar.
„Lauter!“ verlangten die drei unisono.
„Ich sagte: Wenn Sie durchaus die Wahrheit zu wissen wün¬
schen...“
„Deshalb sind wir hierher gekommen“, stellten sie fest, und
wieder wie aus einem Munde.
„Also gut“, flüsterte Hunhun, der seine Hoffnung nun völlig
aufgegeben hatte. „Ich kann es Ihnen nicht verheimlichen, meine
Herren...“
„Für Sie sind wir keine Herren!“
„Ich kann es Ihnen nämlich nicht verheimlichen“, hauchte er,
„dass Ihre drei Ringe gleichermaßen ... wertlos sind.“
Diese einfache Auskunft sogleich ganz aufzufassen, waren sie
nicht in der Lage. „Das Gold?“ fragte der Erste.
„Messing.“
„Die Gravierungen?“ der Zweite.
„Gussarbeit.“
„Und welcher gehört wem?“
Da zuckte er nur noch mit den Schultern, und die Wahrheit
dämmerte ihnen. Da sie nun aber Arm in Arm standen, schienen
sie zusammengewachsen, und dass sie drei waren, das konnte
Hunhun schon nicht mehr erkennen. Und damit hatte er auch
völlig recht. Denn statt einander zu hassen — was zu tun sie gehasst
hatten —, hassten sie nun nur noch ihn, den Vierten, und das
taten sie sogar voller Genugtuung, wenn nicht sogar eine Spur
Dankbarkeit dabei war. Gleichviel, gemeinsam griffen Sie, so
als hätten sie das eingeübt, unter die Tischplatte, die drei Ringe
rollten zu Boden, und krachend stürzte das Möbelstück auf den
kleinen Herrn Hunhun.
Auf dem Heimweg aber sangen sie einen dreistimmigen Kanon,
und sie vergaßen auch nicht, als sie an ihres Vaters Grab vorbei¬
kamen, drei Ringe auf dieses niederzulegen. Ob es die „echten
unechten“ waren, die sie vielleicht im letzten Augenblick vor
ihrem Aufbruch aus Herrn Hunhuns Kontor aufgelesen und zu
sich gesteckt hatten, oder ob sie diesen letzten Augenblick dazu
benutzt hatten, um aus dem großen Ringvorrat des Juweliers ein
paar wirklich echte zu entwenden, das wissen wir nicht. Und
ebenso wenig, in wessen Händen die drei Ringe sich heute be¬
finden. Wahrscheinlich — denn schon am nächsten Morgen war
die Grabplatte leer - in den Händen von Dieben des Diebsguts.
Wie dem auch sei, schließen wollen wir nicht im Gedenken an
diese, sondern im Gedenken an den kleinen Herrn Hunhun,
der einen Tod gestorben ist, den auch unsereins vielleicht einmal
wird sterben müssen.
Erstdruck 28.129. Oktober 1978 in der Feuilletonbeilage der „Süd¬
deutschen Zeitung“. — Obwohl Anders diese Ringparabel als „mo¬
lussische Variante“ bezeichnete, nahm er sie dennoch nicht in seinen
Roman „Die molussische Katakombe“ (München 1992) auf. Auch
in der von Gerhard Oberschlick herausgegebenen „zweiten, erweiter¬
ten Auflage. Mit Apokryphen und Dokumenten aus dem Nachlass“
(München 2012) ist sie nicht enthalten.
In Briefen an Henry Pauker beschrieb Anders 1971 sein Molussien¬
Projekt mit den Worten: „Molussien ist ein imaginäres exotisches Land,
das ich Swifi-artig im Jahre 1932 erfand, um in getarnten Erzählun¬
gen und in Pseudodokumenten den Mechanismus des aufkommenden
Nationalsozialismus zu demaskieren. In der Tat stand im Berliner
Tageblatt am Tage des Reichstagsbrandes eine dieser Geschichten. Im
Jahre 1933 war die erste Fassung fertig ... [...] In der Tat habe ich
während der Pariser und New Yorker Emigrationszeit noch viel an
dieser Swiftiade gearbeitet.“
Der Philosoph und Schriftsteller Günther Anders
(Breslau 1902 — Wien 1992), Verfasser der grundlegenden Studie
„Über die Antiquiertheit des Menschen“ (München 1956 und 1980)
ist als einer der bedeutendsten Vertreter der Philosophie im Exil anzu¬
sehen. Vgl. u.a. Max Beck, „Günther Anders‘ Gelegenheitsphilosophie“
(Wien 2017).
„Penetrantes Gutmenschentum“. — Der Ausdruck wurde von einer
österreichischen Schriftstellerin in der Besprechung des Buches
einer anderen österreichischen Schriftstellerin verwendet. Letztere
hatte einen Roman geschrieben, in dem sich der Lebensgefährte
von der Protagonistin und ihrem „penetranten Gutmenschen¬
tum“ (im Einsatz für in Österreich Asyl Suchende) abwendet,
was die Rezensentin nur zu gut verstehen kann. Ich persönlich
bin außerhalb der Phrase noch kaum einem „Gutmenschen“
begegnet, wohl aber penetranten Leuten, und diesen häufig, die
nicht „moralinsauer“ und nicht „political correct“ und schon gar
nicht „Gutmenschen“ sein wollten. Sie trugen dieses Bekenntnis,
keine Gutmenschen zu sein, meist mit moralischer Erbitterung
vor. Den moralisierenden Eindruck, den sie auf mich machten,
konnten sie auch mit der strikten Weigerung, auf das Gebiet des
Moralischen einen Gedanken zu verschwenden, der über die
Betriebspsychologie ihrer Beziehungen hinausging, nicht verwi¬
schen. Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute.