Brigitte Menne
Osterreichisches in Bayern
Wir laufen aus Leibeskräften in die Zukunft, und wir gehen so schnell,
dass uns die Gegenwart entwischt, und der Staub, den wir aufwirbeln,
verdeckt uns die Vergangenheit.”
Boris Vian
Staub, den wir aufwirbeln, um die sich fortschreibende Vergangenheit
in Europa zu verdecken, ist auch die jahrliche Leistungsschau des Bun¬
desheers am Heldenplatz zum Nationalfeiertag, fir mich ein „Tango
der frdhlichen Militarverehrer... Kriegsbegehrer“’. Wieder wurden
uns martialisch Panzer, Waffen, Hubschrauber gezeigt. Aufgrund der
finanziellen Situation des Bundesheers soll das heuer bescheidener
gewesen sein, mir erschien es immer noch protzig. Ich bin ja nach
wie vor froh darüber, dass meine beiden Söhne den Zivildienst dem
Wehrdienst vorgezogen haben. Ich bin ein Nachkriegskind; wie bei
einem Hund sind heulende Sirenen und Silvesterschießereien als
„Lebensgefahr!“ in meinem Unterbewusstsein gespeichert.
Vor dem Haus der Geschichte nebenan sah ich lange Menschen¬
schlangen -alle wollten die erstmals öffentlich ausgestellte, über 1000
Jahrealte „Ostarrichi“-Urkunde schen, diese elegante Ersterwähnung
des Vorgängernamens für Österreich in einer Schenkungsurkunde
Ottos III. Diese wird sonst im Bayerischen Staatsarchiv aufbewahrt.
Ja, er berührt mich, dieser schöne, altertümliche Schriftzug — aber
beileibe nicht so sehr wie die Zuchthausakte meiner Großmutter,
die ebendort archiviert sind. Diese persönlichen Dokumente einer
chedem unter den Teppich gekehrten familiären Schmach sind in
ihrer Gesamtheit auch eine „Schenkungsurkunde“, weil durch sie
ihren Nachfahren wertvolles Quellenmaterial zugänglich wurde.
Durch ihre wissenschaftliche Bearbeitung (s. Fußnote 8) wurde eine
zuvor juristisch „ausgemerzte“ Person rehabilitiertund ihr Andenken
wieder chrenvoll und lebendig gemacht. Sie war die letzten zwei
Kriegsjahre im Frauenzuchthaus Aichach inhaftiert, und Aichach
liegt in Bayern. Nach einem Hinweis vom Arolsen-Suchdienst* hatte
ich mir 2014 die achtzigseitige Bürokratie ihrer Verfolgung auf CD
gespeichert zuschicken lassen: Ich hatte es mir in den Kopf gesetzt
mich zu konfrontieren, auch mit den Ortlichkeiten. Und eine dieser
Örtlichkeiten ist das Ministerium für Inneres in der Herrengasse,
das 1953 ihr Ansuchen um einen Opferfürsorge-Ausweis in letzter
Instanz ablehnte.
2019 lud Bundespräsident Alexander Van der Bellen erstmals
zum Österreich-Fest. Mein persönliches Österreich-Fest war mein
Besuch in der Strafvollzugsanstaltin Aichach zwei Wochen zuvor: Ich
hatte einen kleinen Kranz mitgebracht mit hellgelben Immortellen,
mehrere Sträuße davon hatte ich im Sommer auf dem Markt in
Ohrid gekauft, noch gar nicht in Hinblick aufeinen Kranz für die
Großmutter, einfach aus Entzücken an den Blumen und ihrem Duft.
Vielleicht ist es ja sentimental, aber der Mensch neigt dazu Spuren
zu hinterlassen, eine Geste zu setzen. Ich hatte nicht einmal eine
Zustimmung von der Anstaltsleitung, dass es erlaubt sei, irgendwo
in der Anstaltskirche einen kleinen Kranz zu hinterlegen. Trotzdem
habe ich soviel Aufhebens damit gemacht und noch frische Stängel
von Lavendelblüten von meinem Hausgartel zwischen die gelben
Immortellen gesteckt. Aus kirchenhistorischen Gründen hat der
Hochaltar in der Anstaltskirche der Strafvollzugsanstalt Aichach
für Messfeiern ausgedient, mit meiner Kranzniederlegungaufdem
Altartisch habe ich ihm „eine neue Monstranz“ geschenkt mit der
Inschrift, dass meine Vorfahrin, eine unscheinbare Bäuerin aus Gol¬
degg im Innergebirg, durch ihren Dissens während der NS-Diktatur
nun eine persona Austriaca grata geworden ist.’
Wenn man nicht Kind von BefreierInnen ist, sondern von soge¬
nannten Belasteten, sollte man versuchen, sich von Menschen herzu¬
leiten, die durch ihren Widerspruchsgeist zur Befreiung beigetragen
haben: Denn Befreiung kann es nicht nur durch alliierte Armeen von
außen geben, sie muss noch mehr und immerwährend im befreiten
Land und vor allem in den Köpfen der Befreiten stattfinden: Das
passive Erleiden des Glücks muss in ein Sich-selber-Instandsetzen
übergehen, in einen Habitus der Befreiung. Befreiung widerfuhr
Österreich 1945 im April, aber im Jahr 2019 am Nationalfeiertag
vor einer Gedenktafel zu stehen und Deserteure zu ehren - befreit
das? Inwiefern? Weil es Sinn macht sich an Widerstandshandlungen
konkreter, einfacher Menschen zu erinnern. Es ist bestarkend hier mit
anderen zu stehen. In der Festrede des Landesgerichtsprasidenten,
dessen Spruch 2018 meine Großmutter rehabilitiert hat, fiel mir
etwas auf, das ich so zuvor noch nie gehört hatte: Angst seials Grund
für Desertion anzuerkennen. Wenn einer von Nazi-Häschern gefasst
und gezwungen wurde anzugeben, warum er von der Wehrmacht
abgehauen sei, gab es öfters die Antwort, essei Angst gewesen. Angst
vor den Kriegshandlungen. Angst sei eine tiefe Abwehrhaltung,
fuhr Friedrich Forsthuber in seiner Rede fort, Angst sei deshalb als
„Dissens“ anzuerkennen. Eingedenk der vielfältig gehörten Reden
in meiner Jugend, Kriegs-Deserteure wären Feiglinge gewesen‘,
wirkte es befreiend auf mich einmal zu hören, dass auch Angst als
Motivation für Widerstand anzuerkennen sei.
„Wenn sich Ihnen schwere Hindernisse in den Weg stellen, die Sie
nicht und nicht überwinden können, dann lassen Sie es vorläufig
sein und wenden sich anderen Zielen zu.“
Dieser Satz stammt von der damals schon betagten, quirligen,
kleinen Frau Altmann, die ich in den Neunzigerjahren manchmal in
ihrem Jeans Shop in Linzaufsuchte, weniger um Jeans oder geblümelte
russische Kopftücher zu kaufen, sondern um sie um Rat zu fragen.’
Ja, diesmal war Aichach mein Etappen-Ziel. Schon langewollteich
dort die heutige Justizvollzugsanstalt besuchen, um indem Gebäude,
das mit dem einstigen „Frauenzuchthaus“ baulich nahezu ident
ist, eine Vorstellung davon zu bekommen, wo meine mütterliche
Großmutter zwischen 1943 und 1945 als „Politische“ eingesessen
ist, wo sie Misshandlungen und schwere Drangsale erlitten hat.°
75 Jahre später waren für mich, ihre Enkelin, die Hindernisse auf
dieser Fahrt von Wien nach Aichach unerheblich: Das Ankommen
dort glich — nach der vorausgegangenen jahrelangen, mühseligen
Quellensuche, nach den belastenden Kontaktaufnahmen mit der
Verwandtschaft, nach dem Bemühen um Verständigung mit der
Autorin, der ich die Forschungsarbeit und das ausgefeilte Resümee
verdanke - einer Belohnung: Lebenssorge Fremden gegenüber war
im NS-Staat eine weiblich konnotierte widerständige Praxis.
Von Wien mit dem Zug angereist, stieß ich in Linzauf Maria, wir
fuhren weiter nach Wels, wo uns Martin und Johanna Greinecker? mit
ihrem erdgasbetriebenen PKW abholten. Aufder Autobahn Richtung
Landshut dahindösend wachte ich erst angesichts der Kühltürme