„Eine Freundin riet mir, eine Fortsetzung des
Buches [Ende und Anfang, Anm.] zu schrei¬
ben [...] Ich las es zum erstenmal [...] wieder,
um herauszufinden, ob es noch lebendig sei
und mehr oder weniger verdiene, abermals in
die Welt hinausgeschickt zu werden. Mit ge¬
teilten Gefühlen, bei denen jedoch Freude das
stärkere war, stellte ich fest, daß es gleich den
meisten meiner Bücher wenig Aussicht habe,
einen Verleger zu finden und demnach noch
lebendig sei.“ (Nachtrag, Band 1, S. 224) So
beurteilt Hermynia Zur Mühlen ihr bisheriges
schriftstellerisches Werk im englischen Exil in
dem Anfang Februar 1950 fertiggestellten so¬
genannten „Nachtrag“. Auf knapp 15 Seiten
beschreibt sie darin ihre Flucht aus Frankfurt
am Main nach Wien im März 1933, von dort
1938 in die Tschechoslowakei und schließlich
1939 nach England, zunächst in London lebend
und, als ihre „letzte Station“, ab 1948 in Radlett,
nördlich von London. Dort verstirbt sie am 20.
März 1951 nach langer Krankheit, in prekären
finanziellen Verhältnissen und nahezu verges¬
sen. Einen literarischen Nachlass gibt es nicht.
Dennoch ist ein umfangreiches gedrucktes Oeu¬
vre Hermynia Zur Mühlens erhalten, die sich
nach ihrer Scheidung vom deutsch-baltischen
Großgrundbesitzer Victor von zur Mühlen und
dem Wegfall der elterlichen Unterstützung ihren
Lebensunterhalt als freie Schriftstellerin und
Übersetzerin schreibend selbst verdienen musste.
Doch war es nicht nur die Not, die zur Produk¬
tivitat Hermynia Zur Mihlens beitrug, sondern
auch ihre Uberzeugung, durch ihr Schreiben auf
die Menschen einzuwirken, dass sie „durch diese
Arbeit erwas dazu beitragen könnte, die Welt zu
verbessern“, so Zur Mühlen. (Nachtrag, Band 1,
S. 225) Ihre politische Haltung trug wohl dazu
bei, dass ihre Bücher auch nach ihrem Tod lange
Zeit wenig Aussicht hatten, verlegt zu werden.
(Neuauflagen gab es nach Kriegsende lange nur
in DDR-Verlagen). Erst in den 80er Jahren wird
Hermynia Zur Mühlen von einem kleinen Kreis
von ExilforscherInnen in Österreich und der
BRD „wiederentdeckt“ (vgl. MdZ 6/4, Dez.
1989, S. 7-8). Seit den 90er Jahren kam es auch
in österreichischen Verlagen zu Neuauflagen
ihrer Romane und Erzählungen, die zum Teil
bereits wieder vergriffen sind.
Daher ist die nun 2019 im Zsolnay Verlag im
Auftrag der Akademie für Sprache und Dich¬
tung und der Stiftung Wüstenrot vorgelegte vier¬
bändige Edition, die auf mehr als 2500 Seiten
Einblick in Zur Mühlens vielfältiges literarisches
Schaffen ermöglicht, eine weitere Gelegenheit,
das Werk dieser engagierten Schriftstellerin für
LeserInnen zugänglich zu machen und ins Ge¬
dächtnis zurückzuholen. Verantwortlich für die
Auswahl aus dem doppelt so umfangreichen
Schaffen Zur Mühlens zeichnet der Literatur¬
wissenschaftler Ulrich Weinzierl. Der Heraus¬
geber beschließt jeden der vier Bände mit einem
Kommentar, in dem neben Informationen zu
Entstehung sowie Erst- und Wiederabdrucken
der Texte auch Hinweise zu ihrer Rezeption und
ausgewählten Forschungsarbeiten gegeben wer¬
den. Die zum Teil sehr detaillierten Stellenkom¬
mentare ermöglichen es zudem, die zahlreichen
politischen und historischen Bezüge in den Ro¬
manen und Kurzgeschichten nachzuvollziehen.
Es sei jedoch erwähnt (und auch Weinzierl weist
darauf hin), dass etwa der Stellenkommentar
zum Roman „Unsere Töchter, die Nazinen“ ei¬
ner früheren Publikation durch Jörg Thunecke
im promedia Verlag viel zu verdanken hat. So
scheinen die begleitenden und kommentieren¬
den Texte der Ausgabe auch insgesamt vor allem
auf ein LeserInnenpublikum abzuzielen, das mit
Zur Mühlens Schreiben und Leben noch nicht
allzu vertraut ist— darauf deutet auch das einfüh¬
rende Essay der Schriftstellerin Felicitas Hoppe
hin, die beschreibt, wie sie sich für die Edition
Hermynia Zur Mühlen erstmals näherte. Den
Abschluss bildet ein von Weinzierl verfasstes
Porträt der „Genossin Gräfin“, das eine durch
eine Vielzahl an Selbst- und Fremdzeugnissen
bereicherte biografische Annäherung darstellt.
Welche Werke wurden nun für die Edition
ausgewählt?
Der umfangreichste Band 1 (Erinnerungen
und Romane) enthält mit „Ende und Anfang“
(1929), „Nachtrag“ (1950) sowie „Reise durch
ein Leben“ (1933) drei Werke, die deutlich auto¬
biografische Züge tragen. In „Ende und Anfang“
lernt man etwa in amüsant erzählten Episoden
ein Kind aus dem österreichischen Hochadel
kennen, das sich schon früh seiner Privilegien
bewusst wird und diesen mit einem selbst ge¬
gründeten Verein den Kampf ansagt. Das Ziel
des Vereins: die „Abschaffung des Adels“. Doch
als die als Vereinskassierin eingesetzte Cousine
die Mitgliedsbeiträge für Süßigkeiten „verfrißt“,
muss die junge Protagonistin erkennen, „daß
man nicht mit Hilfe der Aristokraten den Adel
abschaffen konnte.“ Auf diese Weise verknüpft
Zur Mühlen Autobiografisches mit historisch¬
gesellschaftlichen Prozessen. Das Buch endet
mit dem Ausbruch der Russischen Revolution,
„nun fiel es leicht, den letzten Schritt zu tun,
die letzten Fesseln abzustreifen, die mich an das
nutzlose, behagliche Leben banden. Ich brach
mit meiner alten Welt und wagte den Sprung in
die neue.“ (Ende und Anfang, Band 1, S. 223)
Dieser Sprung in die „neue Welt“ führt sie
1919 gemeinsam mit ihrem neuen Lebensge¬
fährten Stefan Klein nach Frankfurt am Main,
wo sie mit den Übersetzungen des sozialkriti¬
schen amerikanischen Schriftstellers Upton Sin¬
clair zum Erfolg des neu gegründeten, kommu¬
nistischen Malik-Verlags beiträgt. Zu jener Zeit
etabliert sich Hermynia Zur Mühlen aber auch
als eine der erfolgreichsten Vertreterinnen eines
neuen Genres: der proletarisch-revolutionaren
Märchen. Das Märchenbuch „Was Peterchens
Freunde erzählen“ (1920/21), illustriert von
George Grosz, wird ein großer Erfolg, und es
folgen viele weitere, von denen fast alle in Band
3 der Edition (Erzählungen und Märchen) Ein¬
gang gefunden haben. Ebenfalls in diesem Band
versammelt sind Novellen und Erzählungen
jener „proletarisch-revolutionären“ Schaffens¬
periode der 1920er Jahre, in der Hermynia Zur
Mühlen der kommunistischen Bewegung nahe
stand. So auch vier Erzählungen, erschienen
zwischen 1924 und 1926, die laut Ulrich Wein¬
zierl aufgrund ihrer klar erkennbaren „Tendenz“
bislang eher unbeachtet geblieben seien und nun
zum ersten Mal seit fast hundert Jahren neu
abgedruckt werden. Die Erzählung „Schupo¬
mann Karl Müller“ (1924) brachte der Autorin
bei Erscheinen eine Anklage wegen Hochverrat
ein, dasie darin einen aus dem Proletariermilieu
stammenden „Schupomann“ beschreibt, der bei
einer Demonstration streikender Metallarbeiter
die Seiten wechselt und seinen „Genossen“ bei¬
steht. Die Erzählungen, von Zur Mühlen selbst
„kleinere Propagandaerzählungen“ genannt, die
den arbeitenden Menschen, das Proletariat,
ins Zentrum stellen, handeln meist von den
„Kleinen Leuten“ (so auch der Titel einer der
Erzählungen), von den Unscheinbaren, und sehr
oft von Frauen — von jenen, die in den meistge¬
lesenen Büchern jener Zeit, die von Helden und
den Taten „großer Männer“ handelten, nicht
vorkamen. Es sind also das Dienstmädchen
„Lina“ oder die Kinder aus verarmten Proleta¬
rierfamilien, deren gesellschaftlich verursachtes
Elend Zur Mühlen in ihrer eindringlichen und
klaren Sprache beschreibt.
Auch Band 4 (Geschichten und Feuilletons)
widmet sich vor allem der Kurzprosa Zur Müh¬
lens, besonders den „Geschichten“ der 1930er
Jahre, welche die Autorin, nach ihrer Entfrem¬
dung von der KPD, in sozialdemokratischen,
aber auch bürgerlichen Publikationsorganen
unterbringen konnte. Ihr Blick richtet sich, im
Vergleich zu den in Band 3 abgedruckten Er¬
zählungen und Novellen, nun auch vermehrt
auf die bürgerliche und aristokratische Welt,
Moraldiskurse, soziale Konventionen und Ge¬
schlechterverhältnisse werden hinterfragt. Auch
ihre Feuilletons entsprechen dieser kritischen
Sichtweise, so etwa die 1919 in „Die Erde“ er¬
schienene kurze Schrift „Tod dem Bourgeois!“.