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Aber die Betroffenen waren nicht so weit
marginalisiert, dass sie die herrschenden an¬
tikommunistischen Stereotype internalisiert
und jegliche gesamtgesellschaftliche Perspektive
verloren hätten. Die Studie zeigt, dass sie ihren
Kindern Glauben und Werte weiterzugeben
vermochten.

Die Interviews wurden „aus diskurshistorischer,
erzähllinguistischer und psychotherapeutischer
Sicht analysiert“. (S. 11)

Grob zusammengefasst ergaben sich durch die
gründliche und diffizile Forschung folgende
Gemeinsamkeiten:

Das nationalsozialistische Gesellschafismodell
war 1945 zwar überwunden, die Rollenbilder
und Identitätsmodelle, die in dieser Zeit geprägt
wurden, waren aber für einen großen Teil der
Bevölkerung weiterhin Leitbilder. Die Kinder
jener Eltern, die nach Jahren der Haft und Flucht
zurückgekommen sind, sind mit anderen Leit¬
bildern aufgewachsen. (S. 133)

Sie haben in zwei (oder drei) getrennten
Welten gelebt: zu Hause die Utopie des Welt¬
kommunismus - in der Schule die katholisch
dominierte, antikommunistische Restauration.
„Wo du dir immer überlegt hast, was von dem,
was in mir drinnen ist, gebe ich bekannt. Was
sage ich, was erzähle ich (S. 133).

Manche wurden als Kleinkind von der Mutter
getrennt (139).

In sehr vielen Familien fehlten die Großeltern
(S. 140).

„Für viele war das dominierende Element der
Jugendzeit die Verankerung in der Gruppe“ ($.
145) (Sturmvögel, Junge Garde), in den Ferien
in Kinderheimen, Sommerlagern (S. 143), von
einer „unterstützenden Gemeinschaft umgeben“
(S. 75) in der Jugendorganisation, so der Freien
Osterreichischen Jugend (FÖJ). Aber: „Man¬
che sind zu diesen Strukturen und Ritualen
[Heimabende, Lager] auf Distanz geblieben.“
(S. 146).

Der Erziehungsstil der Eltern war relativ to¬
lerant (S. 150 ff.), verglichen mit der damals
vorherrschenden „Schwarzen Pädagogik“.

Die Eltern legten großen Wert auf Bildung
(S.153 f.).

Die Kinder erhielten und akzeptierten von
ihren Eltern ,,transgenerationale Auftrage“ (S.
154 ff.): „Verantwortung; dass wir auf die ande¬
ren schauen sollen, nicht zuerst auf uns selber“
(S. 155); „Solidarität, Anständigkeit, Hilfsbe¬
reitschaft“ (S.157); „das Bedürfnis, anderen zu
helfen“ (S. 216); „gut sein; Leistung erbringen,
sozial sein; verantwortungsbewusst; ein hohes
Pflichtgefühl; ich muss beweisen, dass ich ein
Recht darauf habe zu leben“. (S.217)

„Menschen immer als gleichrangig anzuse¬
hen.“ (S. 156 f.)

»Lass dir nichts gefallen, wehre dich.“ (S.
156) — Auftrag zu Widerstand (mit einem Ver¬
gleich aus der Botanik: wie ein Dornbusch,
Anm. E.E);

eventuell auch der Auftrag: „Halt dich im
Hintergrund.“ (S. 156). „Für die Studiengruppe
ist der Auftrag zu Unterwürfigkeit und Tarnung

absolut untypisch.“ (S. 71) (Meiner Meinung
nach ist auch Tarnung ein Auftrag zu Wider¬
stand: wie die Graswurzeln gegen Dünen. Anm.
E.F)

Adoleszenzkonflikte waren „gewissermaßen
schaumgebremst“ (S. 163), wurden „dadurch
abgefedert, dass die Weltanschauung der EI¬
tern- und Kindergeneration die gleiche war.“
(S.161)

„Symbiotische Tendenzen, endlose emoti¬
onale Abhängigkeit“ (S. 78), „extrem überbe¬
treuendes Verhalten“ (S.162); „schwierig, sich
gegen die Eltern zu wenden“ (S. 225).

Die Prioritäten — zuerst Politik und Partei,
dann Familie (5.225). - ein Defizit an Emotionen,
das — mehr oder weniger ausgeprägt — charak¬
teristisch ist für viele der Familien (S. 159); sie
haben immer das Allgemeine geliebt, aber nicht
das Konkrete. Die Kinder der ganzen Welt mussten
sie retten, aber für die eigenen Kinder haben sie
kein Verständnis gehabt; sie konnten es sich nicht
leisten, Gefühle zu haben, sonst hätten sie nicht
überlebt (S.159).

Das Aufwachsen im „Spannungsfeld zwischen
dem Erleben von Außenseitertum einerseits und
dem Aufgehobensein in der Gemeinschaft“ (S.
218) dürfte mehr oder weniger allen Interview¬
ten gemeinsam sein.

Die Widerstandsgeneration wollte die Kinder
nicht durch Erzählungen über ihre Erlebnisse
belasten. Diese Abwehr gegen Emotionen aller
Art, die Distanzierung, die viele Kinderjausner¬
Innen durchgemacht haben, trug erheblich zur
Resilienz der Nachkriegsgeneration bei (S.303)
— so die Interpretation von Ruth Wodak und
Ernst Berger.

Im Kapitel drei von Die ,,Kinderjause“ und
ihr politischer Hintergrund nennt Ernst Ber¬
ger Gemeinsamkeiten in den Biografien der
Interviewten:

Die Familienstruktur: bürgerliche Kleinfa¬
milien. (S. 29)

Die Freundeskreise der Eltern. Ernst Berger
zählt hier die Kreise der englischen, der fran¬
zösischen, der sowjetischen Emigration, die in
der Wiener Polizei, die im Wirtschaftsapparat
der KPÖ Beschäftigten und die hauptamtlichen
Parteifunktionäre ($. 28 f.) auf.

Die Kinder- und Jugend-Organisationen
der KPÖ: die Demokratische Vereinigung
Kinderland, die Heimabende der Sturmvögel,
der Jungen Garde, die Ferienheime; die Freie
Österreichische Jugend (FÖ)).

Die Vereinigung demokratischer Studen¬
ten (VdS): Da finde ich ziemliche historische
Lücken, die meiner Meinung nach mit der
Auswahl der Interviewten zu erklären sind. Da
wird die Geschichte von Nachkriegs-Kindern
erzählt; die älteren Semester könnten anderes
berichten.

Auch der Ostermarsch kommt im histori¬
schen Rückblick nicht vor. Hier zeigt sich der
eingeschränkte Blickwinkel des Autors: Um
tiefgehende Interviews zu führen, braucht
es ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen

den Interviewenden und den Interviewten.
Die ForscherInnen betonen zwar, dass die
„InterviewpartnerInnen in unterschiedlicher
Nähe oder Distanz zur ‚Kinderjause‘, stün¬
den, aber sie wählten, scheint mir, doch eher
Interviewpartnerlnnen aus ihrem engeren
Freundeskreis, was das Spektrum natürlich
einschränkt.

Den AutorInnen ist das bewusst: Selbstverständ¬
lich hat die Auswahl der InterviewpartnerInnen
Einfluss auf das gewonnene Interviewmaterial.
Doch eine „repräsentative“ Stichprobe aus der
Basispopulation ist nicht zu gewinnen (S.110).

Vom Rand in die Mitte

Wie gelangten die KinderjausnerInnen vom
Rand in die Mitte? Oder umgangssprachlich:
Wie arrivierten sie, wie machten sie Karriere?
In Kapitel 4 — ,, Theoretischer Hintergrund“—
wird die hier untersuchte Gruppe mit jungen
Flüchtlingen verglichen, die, von den Natio¬
nalsozialisten vertrieben, in die USA geflüchtet
waren und dort überproportional erfolgreich
waren:

Der spätere überproportionale soziale Erfolg vieler
Mitglieder dieser Gruppe ... wird von den bei¬
den Autoren [Sonnert und Holton] a4 Antwort
und Reaktion auf die unvollständige Integration
interpretiert. (S.68)

Wahrscheinlich könnte zu der Forschungsfrage
„Wie konnten die Außenseiter in die Mitte
kommen?“ neben Psychologie und Linguis¬
tik die Soziologie Wesentliches beitragen. Die
AutorInnen übersehen, was Sonnet und Holton
anschließend an das oben Zitierte schreiben:

... dass ein frühes Zerreifven der Familienbande
zwar die Lebenseinstellungen und -haltungen der
Jungen Flüchtlinge in vielerlei Hinsicht beeinflusste
..., dass dieser Umstand jedoch kaum irgendwel¬
che Auswirkungen auf deren sozioökonomische
Leistungen hatte, wohingegen der ursprüngliche
soziodkonomische Status der Familie einen ganz
beträchtlichen Unterschied machte.

EinE SoziologIn im Forschungsteam hätte,
nehme ich an, nicht nur auf ein ausgewoge¬
nes Verhältnis von Frauen und Männern von
jüdischer oder nicht jüdischer Herkunft, von
der Vergangenheit der Eltern im Widerstand
oder im Exil (S. 15 ff. und 109) geachtet,
sondern auch nach der sozioökonomischen
Herkunft gefragt — der größere Teil der EI¬
tern der InterviewpartnerInnen waren Han¬
delsunternehmer, Polizeibeamte, Rechtsanwälte,
hauptamtliche Parteifunktionäre, Ärzte oder
Universitäts-Professoren — sie gaben, wie ich
glaube, ihren Kindern im Allgemeinen ihr
sozioökonomisches Kapital mit. Da ist es für
mich wenig verwunderlich, dass die Kinder
dieses Kapital nutzten, sobald nach Tauwetter,
Perestrojka und Glasnost die Mauern um die
feste Burg, in der die KPÖ während des Kal¬
ten Kriegs verschanzt war, durchlässig gewor¬
den waren. Da wurde auch in der KPÖ über

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