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um Mutter zu kümmern und ihr zu helfen, unseren Vater frei¬
zubekommen.

Das Packen war schnell erledigt: Wir durften nur einen kleinen
Koffer mit unserer persönlichen Habe mitnehmen. Aber man
brauchte einen „deutschen“ Pass. Ich erhielt einen Pass. Auf der
Vorderseite prangte ein riesiges rotes „J“ für „Jude“. Ich habe ihn
wiedergefunden und eine Fotokopie als Erinnerung aufgehoben.

Meine Mutter wollte, dass wir Geld oder Schmuck mitnehmen,
aber das war strikt verboten. Man setzte uns in Kenntnis, dass wir
an der Grenze durchsucht werden könnten und wir, sollte etwas
gefunden werden, zurückgeschickt und unsere Eltern verhaftet
würden. Ein Freund des Vaters brachte uns auf die Idee, Gold¬
klümpchen von etwa fünf Millimeter Durchmesser herzustellen
und sie in mit Schokolade umhüllten Pralinen zu verstecken. Mit
einem kleinen Sackerl neben uns auf der Bank im Zug würden
wir reisen, essbare Pralinen würden über den „geladenen und
ummantelten“ liegen.

Ich machte mich also daran, diese Goldklümpchen mit der
Ausrüstung meines Vaters zu gießen. Wie Vater Gold in einem
kleinen Behälter schmolz, hatte ich oft genug gesehen, und es
gelang mir ohne größere Schwierigkeiten. Mutter und Schwester
glasierten die Pralinen. Die Pralinen wogen aber zu viel! Denn
Gold ist schwer und zu viele gefüllte Pralinen in einem Säckchen
könnten die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Wir kamen daher
auf den Gedanken, jedem Kind des Transports ein Sackerl mit
einigen gefüllten Pralinen anzuvertrauen und nach dem Grenz¬
übertritt wieder einzusammeln. Diese Sackerl sollten als Geschenk
der jüdischen Gemeinde Wiens ausgegeben werden, jedes Kind
hätte daher sein eigenes. Ich erinnere mich, dass ich mehr Angst
vor dem Verhalten der Kinder bei den Kontrollen hatte als davor,
die Goldpralinen nicht wiederzubekommen. Denn es waren ins¬
gesamt um die dreißig Kinder zwischen zehn und sechzehn Jahren,
denen wir wohl oder übel die Wahrheit erzählen mussten! Und
tatsächlich, als wir die Grenze passierten, bemerkte einer der SS¬
ler die Pralinensäckchen, die jedes Kind in der Hand oder neben
sich auf der Holzbank — wir reisten dritter Klasse — liegen hatte.
Meine Schwester, eine der Älteren von uns, hatte die Kühnheit,
diesen Nazi eine Praline kosten zu lassen!

Es ging alles gut. Das Gold half später meinen Eltern, als sie in
Brüssel wieder mit uns zusammentrafen.

In Brüssel erwartete uns als freudige Überraschung auf dem
Bahnsteig unser Cousin Josef, den alle Bubi nannten, in Begleitung
seiner Frau Annie und ihres kleinen Sohnes Peter. Sie waren bereits
vor einigen Monaten nach Brüssel gekommen. Die jüdische Ge¬
meinde und das Rote Kreuz kümmerten sich um uns, und eine
gewisse Frau de Backer, ich erinnere mich noch an den Namen,
nahm uns auf, als wären wir ihre eigenen Kinder.

Zuerst waren wir zwei Wochen in den Räumlichkeiten eines
Gebäudes untergebracht, ein Ferienlager oder ein Waisenhaus,
wo wir alle zusammen waren, was uns ein gewisses Gefühl der
Sicherheit gab. Wir konnten über Wien reden, über unsere Eltern,
und oft setzte sich eine jugendliche Ausgelassenheit durch. So oft
wir konnten, scherzten und lachten wir, um den gerade erlebten
Verlust zu vergessen.

Die Verantwortlichen des Roten Kreuzes versuchten uns je
nach „Profil“, der sozialen Schicht und Bildung entsprechend,
bei Gastfamilien unterzubringen.

Viele wollten nach Palästina, darunter meine Schwester und
ich. So wurden also „kurzfristige“ Gastfamilien für uns gefun¬
den. Meine Schwester kam in eine sehr bürgerliche Familie, zu

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einer geschiedenen Frau des Herausgebers der damaligen größten
deutschen Zeitung, die mit ihren beiden Töchtern, beide unge¬
fähr im Alter meiner Schwester, in einem vornehmen Brüsseler
Viertel wohnte.

Ich hatte ein bisschen weniger Glück, wenn man das so sagen
kann. Da ich angegeben hatte, dass ich Zahntechniker, den Be¬
ruf meines Vaters, lernen wollte, fand man mir eine Lehrstelle
bei Professor Van der Ghinst, einem „hohen Tier“, der in sei¬
nem Stadthaus neben der Zahnarztpraxis ein eigenes Labor für
Zahnersatz mit einem eigenen Zahntechniker hatte. Dieser, ein
rumänischer Flüchtling, ein wahrer Künstler in seinem Beruf,
behandelte mich, wie Lehrlinge damals behandelt wurden: Ohr¬
feigen zur Begrüßung, hin und wieder kleine Fußtritte. Mehrere
Wochen hindurch bestand meine Lehre aus der Perfektionierung
meiner Kehr- und diverser Putzkenntnisse, dem Anmachen von
Gips für die Abdrücke (ich durfte nur den Gips vorbereiten,
nicht die Formen füllen), dem Besorgen von Zigaretten usf. Die
Assistentin des Herrn Professors, eine charmante und mütter¬
liche Frau, sprach eines Tages darüber mit ihrem Chef, danach
behandelte man mich besser. Schließlich durfte ich einige kleine
Arbeiten der Zahntechnik erlernen.

Eine aus Berlin Geflüchtete war auch in Lehre, sie kam drei oder
vier Mal die Woche. Sie erzählte mir, dass für die Lehre gewöhn¬
lich bezahlt werde, was ihre Eltern für sie taten, und dass mir der
Herr Professor, indem er mich als Lehrling akzeptiert hatte, ein
ganz besonderes Wohlwollen erwiesen habe.

So war ich überrascht und von Dankbarkeit erfüllt, als er, nach¬
dem ich einige Wochen in Lehre war, mir am Ende jeder Woche
zwanzig belgische Francs auszahlte, auf dass ich mir Schokolade
kaufen oder ins Kino gehen könne.

Mein Logis war eine andere Geschichte. Meine „Gastfamilie“
war ein reiches Paar, das einen Antiquitätenhandel betrieb und
in einem Stadthaus unweit meines Zahnarztes wohnte. Im Hof
dieses Hauses war eine Werkstätte zur Reparatur und Restauration
antiker Möbel und, daran anschließend, die Wohnung der Haus¬
gehilfin des Paares. Sie war es, die meine „Gastfamilie“ wurde.
Bei ihr fand ich, in einem kleinen Zimmer ihrer Behausung, eine
Zuflucht. Diese Frau hatte ein Herz aus Gold, sie versuchte mir
zu zeigen, wie schr sie an meinem Schicksal Anteil nahm, wie schr
sie mit dem armen Flüchtling Mitleid hatte, den zu empfangen,
den über sein Leben zu befragen, dem ein wenig Taschengeld zu
geben was die Hauseigentümer selbst nicht geruhten. Wir hatten
aber ein enormes Verständigungsproblem! Ich sprach kein Wort
Französisch, sie kein Wort Deutsch. Sie konnte ein wenig „Brüs¬
selisch“, eine Mischung aus Flämisch und Französisch. Damit und
mithilfe der Zeichensprache führten wir rudimentäre „Gespräche“.

Einfacher war die Unterhaltung mit dem Kunsttischler. Er war
Flame, verstand ein wenig Deutsch und war mir gegenüber schr
liebenswürdig. Er zeigte mir, wie er arbeitete und erklärte mir den
Sinn eines jeden Handgriffs. Mich begeisterte die Reparatur der
prächtigen Tischfurnier, das Wissen dieses Künstlers faszinierte
mich buchstäblich.

„Ich muss Französisch lernen“, sagte ich mir. Für Bücher hatte
ich aber kein Geld. Schließlich gelang es mir, bei meiner Quartier¬
geberin Schulbücher aufzutreiben, und dank meiner mühsam er¬
worbenen Lateinkenntnisse machte ich relativ schnell Fortschritte.
Das Radio lief bei meiner Quartiergeberin den ganzen Tag. Es
waren vor allem Lieder, die ich nicht verstand, aber deren Sprach¬
brocken sich nach und nach zusammenfügten. So erschloss sich
mir der Sinn mancher Sätze. Das erste französische Lied, dessen