Anfang ich verstand und an das ich mich immer erinnerte, war
von Charles Trenet. Es begann mit: „Herr, Herr, Sie vergessen
Ihr Pferd!“
Jedesmal, wenn ich später dieses Lied hörte, sah ich mich in
diesem kleinen Zimmer wieder, von dem aus ein Blick in den Hof
möglich war, nicht aber zum Himmel, der von der Mauer des
gewaltigen Stadthauses ausgesperrt wurde, jenem Stadthaus, das
ich nur ein einziges Mal betreten sollte, nämlich als ich meinen
„Wohltätern“ vorgestellt wurde, durchaus frommen „praktizie¬
renden“ Juden...
Die Sonntage waren lange und trist. Aber mir war es gelungen,
eine andere Beschäftigung als Französischlernen zu finden. Stun¬
denlang spazierte ich durch die Stadt, las die Aufschriften auf den
Geschäften und die Namen der Straßen und versuchte mich zu
orientieren, ohne nach dem Weg fragen zu müssen. Damals war
ich nicht nur schr schüchtern, ich hatte auch Angst, Deutsch zu
sprechen und als Ausländer erkannt zu werden. Wenn ich etwas
kaufen musste, einen Taschenkamm oder Schnürriemen, ging ich
in den Supermarkt SARMA, da brauchte ich den Mund nicht
aufzutun. Und für die Schokolade gab es Automaten!
Bei sehr schlechtem Wetter suchte ich Zuflucht in einem Kino
nahe des Bahnhofes Gare du Nord, wo ich um einen Franken
den ganzen Nachmittag lang ein und denselben Film anschauen
konnte. Die Vorführungen waren, wie übrigens auch das Ziga¬
retten- und Zigarrenrauchen, „non stop“. Wer von der Lein¬
wand zu weit entfernt saß, musste die Augen weit aufmachen,
um trotz der Rauchschwaden, die sich im Laufe der Vorführung
bildeten, etwas vom Film zu sehen. Ich ertrug den Gestank nicht
aus Interesse an den Filmen — meist Schmarren wie alte Western
nach der Machart von Tom Mix -, sondern, um mich vor dem
Schlechtwetter zu schützen und vor allem um zu verstehen, was
gesprochen wurde. Manchmal war mir kein Glück beschieden:
Der Film war auf Flämisch mit französischen Untertiteln. So
begann ich allmählich Flämisch, das dem Deutschen näher ist,
nicht schlecht zu verstehen.
Lilly, meine Schwester, sah ich nur selten. Von Zeit zu Zeit
war ich bei ihrer Gastfamilie zu Mittag oder zum Abendessen
eingeladen, aber ich fühlte mich bei ihnen trotz ihrer Liebenswür¬
digkeit unwohl. Diese anständigen Leute ließen mir Mitleid und
Gönnerhaftigkeit zuteil werden, was ich nicht ertragen konnte,
ich fühlte keine menschliche Wärme, das Einzige, das ich wirklich
brauchte und bei der lieben Haushälterin und dem Kunsttischler
fand. Lilly und ich schrieben einander Briefe oder vereinbarten
Treffen im Freien.
Mehrere Monate vergingen.
Dann erreichte uns die so lange ersehnte Nachricht: Vater war
freigelassen worden und wieder zu Hause, abgemagert und krank,
aber am Leben. Mutter hatte ihn mit gefälschten Einwanderungs¬
papieren für Kolumbien, die gewiss eine enorme Summe Geld
gekostet hatten, freibekommen. Über die Zeit der Inhaftierung
sprach Vater so gut wie nicht, er erzählte bloß einige — wie er
meinte, komische — Details.
Wie sollte er aber aus dem zur Ostmark gewordenen Österreich
herauskommen? Die Papiere, die ihm die Entlassung aus Dachau
ermöglicht hatten, reichten nicht aus, die Einreiseerlaubnis für
einen geduldeten Aufenthalt in Belgien zu erwirken. Blieb also
nur der illegale Grenzübertritt mit einem Fluchthelfer. So er¬
reichten Mutter und Vater Brüssel. Vorübergehend waren wir
vier wieder vereint.
Mit der Hilfe humanitärer Organisationen konnten unsere
Eltern eine kleine Wohnung in der Stadt mieten und uns zu sich
holen. Was für eine Erleichterung, die familiäre Wärme wieder¬
zufinden! Dies trotz der Probleme, die die mehr als prekären
Bedingungen unserer Niederlassung mitunter mit sich brachten.
Vater fand bald einen Fachkollegen, in dessen Zahnarztpraxis er
schwarz arbeiten konnte. Es mangelte nicht an PatientInnen unter
den Geflüchteten, und unsere Situation wurde bald erträglicher.
Um zur Arbeit zu kommen, die ich natürlich nicht aufgegeben
hatte, kauften wir ein gebrauchtes Rad. So gewann ich fast eine
halbe Stunde am Morgen und am Abend und konnte zum Mit¬
tagessen heimfahren. Das Leben nahm also, für mich jedenfalls,
fast wieder seinen normalen Gang. Ich lebte von Tag zu Tag, ohne
mir zu viele Fragen zu stellen.
Meine Schwester und ich schlossen uns einer jüdischen Pfad¬
findergruppe an, die zum Großteil aus Flüchtlingen bestand.
Wir trafen uns für Aktivitäten im Freien, aber auch oft an den
Abenden, um über eine Emigration nach Palästina zu sprechen,
uns Grundkenntnisse im Hebräischen anzueignen und uns zu
vergnügen.
Schließlich beschloss unsere Gruppe, in der Umgebung von
Namur ein Sommerlager zu veranstalten, das von einem Wohl¬
täter finanziert wurde. Selbstverständlich nahm ich teil und zählte
aufgrund meiner sportlichen Fähigkeiten bald zu den Eısten in
meiner Gruppe. Wir übten unsere Ausdauer, Schwimmen, Laufen,
aber auch in den Aufgaben künftiger Pioniere, die wir im Palästina
unserer Träume zu werden vorhatten.
Am Ende des Sommers beanspruchte der Alltag wieder seinen
Platz. In der Lehre machte ich Fortschritte, ich begann, kleine
Werkstücke anzufertigen und mein Mentor, Herr Wig (in dem
Moment fällt mir sein Name ein!), schien mit mir zufrieden.
Der Herr Professor gab mir weiterhin an jedem Wochenende
zwanzig Francs und strich mir über die Haare, während er mir
sagte: „Bis Montag!“
In der Pfadfindergruppe hatte ich einen Freund gewonnen:
Heinz, der ebenfalls ein Rad besaß. Wir beschlossen, an einem
Sonntag bis Anvers zu fahren und den Hafen zu besichtigen,
von dem wir so viel gehört hatten, die Schiffe zu schen, davon
zu träumen, bald nach Palästina abzureisen.
Dieser Tag mit seinen 120 Kilometern hin und zurück, die
Spaziergänge durch die Stadt nicht miteingerechnet, unsere we¬
nig trainierten Beine und schmerzenden Hintern blieben mir in
Erinnerung! Aber diese Stadt mit ihrer so unterschiedlichen Be¬
völkerung, die vielen Menschen mit den verschiedenen Sprachen,
all die unbekannten Töne begeisterten uns. Lange danach noch
redeten wir darüber und stellten uns vor, eines Tages um die ganze
Welt reisen zu können.
Drei Jahre später sah ich Heinz unter dramatischen Umständen
wieder. Ich werde noch darüber sprechen.
Wenn auch jeder mehr oder weniger mit Ereignissen rechnete, die
den zerbrechlichen Frieden in Europa beenden würden, war man
doch überrascht, wie rasch sich Hitlers Feindseligkeiten zu Beginn
dieses Septembers 1939 überschlugen. Auf den Hitler-Stalin-Pakt
folgte das Ultimatum an Polen mit der Annexionsforderung von
Danzig, dann die sogenannten „Grenzzwischenfälle“, inszeniert
von den Deutschen, um einen Vorwand für den Überfall auf Polen