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sprang, sobald ein Telegrafenmast vorbei war, in das Grünzeug
neben dem Bahndamm, mich überschlagend landete ich in einem
Graben voller Dornen.

War das ein Schuss? Ja, glaube ich. Aber vielleicht war es nur
die Furcht davor. Ohne mich zu besinnen, lief ich so schnell ich
konnte Richtung Gehölz und verbarg mich dort, bis ich ruhig
geworden war und überlegen konnte.

Meine Flucht hatte so überstürzt begonnen, dass mir erst jetzt
mein Koffer im Zug einfiel. Alles, was ich auf der Welt besaß,
befand sich darin. Bei mir hatte ich nur, was ich am Körper trug,
einen leichten Pulli, ein kurzärmeliges Hemd, eine graue Hose,
Schuhe. Nichts in den Taschen außer einem Taschentuch und
einen Kamm, keine einzige Münze, kein einziges Dokument.

Ich musste mich als Erstes von der Zugstrecke entfernen und
mich bis zum Abend verstecken.

Nach ein paar hundert Metern stieß ich auf einen Bach, in dem
ich mich ein wenig waschen und mich um die aufgekratzte Haut
kümmern konnte, die ich mir beim Sprung in die Brombeerran¬
ken zugezogen hatte. Mein Taschentuch kam mir dabei zu Hilfe.
Keine Menschenseele in der Umgebung, aber der Anblick von
Apfelbäumen erinnerte mich daran, dass mein Magen völlig leer
war. Ich aß einige Äpfel, nicht zu viele, um nicht Magenschmerzen
zu bekommen!

Was sollte ich tun?

Ich musste nach Marseille zurück, dem einzigen Ort, wo ich
Menschen kannte, die mir helfen konnten.

Wo ich mich befand, wusste ich nicht, aber der Zug war nach
Norden gefahren und Marseille lag im Süden. Wie der Tag sich
neigte, ging ich zurück zur Zugstrecke, legte einige Kilometer
zurück, bis zu einem kleinen Bahnhof, der völlig im Dunkeln lag.
Auf einem Abstellgleis stand ein Güterwaggon, daran angebaut
eine kleine Kabine, ein Bremserhäuschen, erreichbar über ein paar
Trittbretter. Ich setzte mich hinein, um in diesem Unterschlupf
auszurasten. Völlig erschöpft schlief ich bald ein.

Ein harter Aufprall riss mich aus dem Schlaf. Der Waggon wurde
an einen Zug gehängt, der glücklicherweise Richtung Süden fuhr,
in „meine“ Richtung.

In meiner Nische begann es kalt zu werden und ich entschloss
mich, bei der ersten Haltestelle des Zuges in einem kleinen Bahn¬
hof auszusteigen und mich unter die Reisenden zu mischen.

Niemand beachtete mich, aber ich befürchtete Kontrollen und
ging auf der Suche nach Versteckmöglichkeiten den Zug entlang.
Ein Güterwaggon war unverschlossen. In seiner Nähe nahm ich
Platz unter den Reisenden und stellte mich schlafend, um zu
hören, worüber sie redeten, aber vor allem, in welche Richtung
wir fuhren!

Mehrmals war von Montpellier die Rede und so kam ich zur
Überzeugung, dies sei der Bestimmungsort des Zuges. Ich saß also
im richtigen Zug. Da sah ich Bewegung am anderen Ende des
Zuges: ein Kontrolleur nahte. Ich Hüchtete in den Güterwaggon,
er war zwar mit einer schweren Tür teilweise verschlossen, aber
nicht versperrt.

Der Kontrolleur schien Richtung Güterwaggon zu kommen.
Ich öffnete die zweite Tür und huschte in ein Abteil, in dem es
völlig dunkel war.

Eine Kühlkammer!

Bis ich es merkte, war es schon zu spät. Ein paar Minuten wird
das schon auszuhalten sein, sagte ich mir. Ich zählte bis hundert,
dann noch einmal, dann hielt ich es nicht mehr aus und öffnete
die Tür einen Spalt. Kein Kontrolleur! Wieder hatte ich Glück!

Mitten in der Nacht erreichte der Zug Montpellier. Alle stiegen
aus. Auf einem anderen Gleis wartete ein Zug, viele eilten in
seine Richtung. Ich sah auf einer Seite des Waggons das Schild
„Marseille“. Mein Zug!

Die Abteile wurden gestürmt. Mitten in eine Gruppe von Män¬
nern gezwängt, fand ich mich schließlich auf der hinteren Plattform
eines Waggons stehend. Der Zug setzte sich in Bewegung. Überall
am Gang Menschen, manche hatten einen unbequemen Platz auf
einem Bündel oder einem Koffer gefunden, die meisten standen.

Mir gelang es nicht, meine Augen vom anderen Ende des Gan¬
ges abzuwenden. Offensichtlich sah man mir meine Angst an,
denn ein Mann an meiner Seite richtete schließlich das Wort
an mich: „Du hast keine Fahrkarte, nicht wahr?“ Ich nickte und
erzählte eine Geschichte, die ich mir im Vorhinein zurecht gelegt
hatte: „Ich bin Elsässer und hab mich davongemacht, damit ich
nicht in die Wehrmacht eingezogen werde“, in der Hoffnung,
nicht auf einen Kollaborateur gestoßen zu sein. Aber der Mann
grinste und wollte die ganze Geschichte hören. „Ich hab ohne
größere Probleme die Grenze zwischen Elsass und Frankreich
überqueren können, weil ich die Gegend gut kenne. Wie ich aber
die Demarkationslinie erreicht habe, musste ich mich an einen
Schlepper wenden, von dem man mir die Adresse gegeben har.
Der hat mir zwar den Weg gezeigt, aber in dem Moment, als wir
auseinandergingen, schlug er mich nieder und nahm mir alles,
was ich hatte! Mein Biindel, aber vor allem meine Geldtasche mit
allem Geld und den Papieren!“

Aufgrund des Larms musste ich recht laut sprechen und andere
mischten sich ins Gespräch ein. Meine Geschichte schien für sie
plausibel, sie gratulieren mir zu meinem französischen „Patriotis¬
mus“ und machten sich daran, einen Plan zu schmieden, wie ich
den Kontrollen entgehen könnte. Inzwischen war der Tag ange¬
brochen und einige zogen etwas hervor, einer einen Sandwich, ein
anderer eine Frucht. Man gab mir einen Bissen von diesem und
einen Bissen von jenem und ich erfand weitere, durch meinen
Akzent angereicherte Geschichten, der bei diesen anständigen
Menschen problemlos als „elsässisch“ durchging.

An jeder Haltestelle stiegen weitere Reisende zu, wir standen
immer gedrängter und es wurde schwierig, durch den Gang zu
kommen. Trotzdem war ich aufder Hut- und erspähte die Kappe
eines Kontrolleurs, der sich mühsam den Weg zu uns bahnte.

Das war der Moment für den Notfallplan, den sich meine Reise¬
gefährten ausgedacht hatten.

Sie öffneten die Tür zum Gleis, ich stieg die Stufen hinunter
und glitt seitwärts zu den Puffern zwischen den Waggons.

Der Zug fuhr zu diesem Zeitpunkt recht schnell, ich hielt mich
mit all meinen Kräften fest. Wieder einmal erinnerte sich mein
Körper an die Turnübungen meiner Gymnasialjahre und die
Klettereien in den Bäumen des Wiener Praters.

Wenige Minuten später war die Gefahr gebannt, die Tür wurde
geöffnet, ich kam in den Waggon zurück.

Es war vorbei!
Aber nicht für lange.

Nur wenig später wieder Alarm! Zwischen all den Menschen
zeichneten sich, deutlich unterscheidbar, zwei Silhouetten ab,
Polizisten, die von jedem die Papiere kontrollierten.

Wieder begann ich die Akrobatik, machte mich so flach wie
möglich zwischen den Puffern und dem Übergang zwischen den
Waggons.

September 2020 25