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Tatsächlich öffneten die Polizisten an jedem Waggonende die
Türen zu den Gleisen und warfen einen Blick hinaus auf die
Trittbretter!

Dieses Mal war der Alarm ernster, die längste Zeit klammerte
ich mich an die Puffer, hin- und hergeschüttelt durch den fahren¬
den Zug, und fragte mich, wie lange ich das durchhalten würde.

Schließlich öffnete sich wieder die Tür, und man gab mir Zei¬
chen heraufzukommen.

Ich hatte Mühe, wieder in den Waggon zu klettern, meine Glie¬
der waren steif geworden und ich am Ende meiner Kräfte. Man
munterte mich auf, schlug mir auf die Schulter und scherzte über
den Streich, den man den Männern des Gesetzes gespielt hatte.

Mein Gesicht und meine Hände waren schweißnass, ganz zu
schweigen von meiner Kleidung. Ich ging auf die Toilette, um
mich ein wenig zu reinigen, dieses Mal voller Hoffnung.

Wieviel Zeit war seit unserer Abfahrt von Montpellier vergangen?
Zweifellos mehrere Stunden, die Sonne stand hoch, es war trotz
des Luftzugs heiß. Alle Fenster standen einen Spalt offen. Ich
hörte, wie neben mir die vorbeiziehende Landschaft kommentiert
wurde. „Bald sind wir in Marseille!“, ertönte es, „da schau, wir
fahren durch Estaque.“

Estaque! Ich wusste, wo das war! Der Bahnhof war nicht weit,
ich musste aus dem Zug, bevor er einfuhr. Plötzlich verlangsam¬
te er sich, blieb fast stehen. Ohne mir Zeit zum Nachdenken
zu nehmen, öffnete ich die Tür, rief ein „Auf Wiedersehen und
danke!“ und sprang vom Zug, der mit geringer Geschwindigkeit
fuhr. Da war ich nun vor den Toren Marseilles, frei, mit nichts
in den Händen, nichts in den Taschen außer einigen Münzen,
die mir jemand im Zug gegeben hatte. Ich befand mich nahe der
Straßenbahnendstationen in Estaque und sagte mir, das Beste
wäre, Richtung Stadtzentrum zu gehen, wo ich auf den einen
oder anderen meiner Bekannten treffen könnte. Glücklicherweise
hatte ich die paar Münzen für die Straßenbahn.

Was für ein gutes Gefühl, die mir bekannte Orte wiederzuse¬
hen! Fast sicher fühlte ich mich. Es war ein illusorisches Gefühl,
denn im Fall einer Kontrolle wäre ich umgehend nach Rivesaltes
zurückgeschickt worden - es sei denn, ich wäre schneller als die
Polizisten gelaufen.

Für den Moment genoss ich das Gefühl, ein Irgendjemand zu
sein, nicht mehr, nicht weniger als ein anonymer Bewohner von
Marseille in der Straßenbahn...

Als sie am Cours de Belsunce ankam, unweit der Canebiére,
schnellte ich von meinem Sitz. Mein Freund Jean Oebel schlen¬
derte auf der Straße!

Ich sprang aus der Straßenbahn und eilte in seine Richtung.
„Jean, ich bin’s!“ „Wo kommst denn du her?! Wir dachten, du
bist in der okkupierten Zone!“ Ich erzählte in knappen Worten,
was mir passiert war. Er sagte, ich müsse mich zu allererst bei
ihm verstecken, denn in Marseille werden Ausweiskontrollen
durchgeführt.

Jean bewohnte mit seiner Freundin ein kleines möbliertes Zim¬
mer in einem Hotel in der Nähe des Vieux Port. Wie ein Aufer¬
standener wurde ich empfangen. Ich erzählte meine Geschichte
in allen Details, während Rachel mir etwas zu essen bereitete.
Und ich konnte mich waschen!

Mein Vater, so erfuhr ich, hatte mir nach Hause geschrieben,
um mir mitzuteilen, dass auch er festgenommen worden sei, und
mich zu fragen, ob ich für ihn intervenieren könne. Viel später
sollte ich erfahren, dass die Gendarmen von Haute-Loire, die
ihn festnehmen sollten, ihn vorgewarnt hatten, dass er beizeiten

26 _ZWISCHENWELT

Herbert Traube mit Maske am 14. Juli 2020 in Nizza.

untertauche, dass er aber gesagt habe: „Ich habe mir nichts vor¬
zuwerfen, wenn man mich festnimmt, wird man mich wieder
freilassen müssen...“

Dabei hätte er es aus Erfahrung wissen müssen! Diese Geschichte
wurde mir von den Besitzern des Hotels erzählt, bei denen er
logierte und mit denen er die besten Beziehungen hatte, in seinen
Briefen hatte er oft von ihnen erzählt. Wahr oder falsch... ?

Bei meinen Freunden war ich für den Moment in Sicherheit.
‚Aber was weiter? Jean war der Ansicht, zuerst müsse Herr Cham¬
penois informiert werden, er würde Rat wissen. Um mich vor
unvorhergeschenen Kontrollen zu bewahren, brachte mich Jean
zu seinem Freund, der ein Stockwerk höher wohnte und zufällig
Polizist war. Wieder wurde ich von herzlichen und heiteren Men¬
schen empfangen. „Hier riskierst du nichts!“, sagten sie mir, „es
ist besser, du schläfst bei uns als bei Jean, man weiß nie!“

Am selben Abend kam Herr Champenois. Wir waren beim
Freund, dem Polizisten, versammelt und besprachen die Situation.

Am Wichtigsten war, dass ich nicht zu lange in Marseille bleibe.
Außerdem: Wo in Marseille könnte ich denn überhaupt bleiben?
Einige Tage in einer Fremdenpension Unterschlupf finden, das
ginge noch, aber dann? Eine andere Lösung musste gefunden
werden. Herr Champenois schlug zwei Möglichkeiten vor: Maquis
oder Fremdenlegion!

Das Album „Facetten des Widerstandes“ (2020) mit Vertonungen
historischer Texte aus dem antifaschistischen Widerstand ist als
Vinyl, CD oder Download über diesen Link zu beziehen:
https://numavi.bandcamp.com/album/facetten-des-widerstandes