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Noch am selben Tag wurden wir in das Lager Les Milles'™
gebracht, in dasselbe Lager, in dem 1940, wie ich schon erzählt
habe, die Prominenten interniert waren. Der erste Eindruck war
ein heilloses Durcheinander, umgeben von einem einfachen Sta¬
cheldraht und bewacht durch die sogenannten Gardes Mobiles!',
die Einsatztruppe der Polizei. Man wurde auf irgendwelchen
Listen aufgenommen, man bekam einen Schlafplatz aus Stroh
zugewiesen in einem Gebäude, das am chesten einer ehemaligen
Ziegelei ähnlich sah, und man konnte sich ansonsten innerhalb des
Lagers frei bewegen. Es waren ungefähr 1200 bis 1500 Menschen,
Männer, Frauen und Kinder, im Lager. Mein erster Gedanke
war: Du mußt dich nach Bekannten umsehen. Ich glaube, es
dauerte nicht mehr als eine Viertelstunde, da traf ich Lisbeth!'!°,
die Schwester von Anni, meiner zukünftigen Frau. Was sie mir
sonst alles erzählte, weiß ich nicht mehr, sie teilte mir aber mit,
daß Anni in den nächsten Tagen ins Lager kommen würde, um
Kinder abzuholen.'!’ Ich kannte beide noch von den sozialisti¬
schen Mittelschülern her. Anni war eine zeitlang mit mir in der
Leitung der Roten Studenten gewesen. Sie war in Frankreich un¬
behelligt, da sie durch eine Scheinheirat mit einem französischen
Sozialisten, den sie von diversen Roten-Falken-Ireffen kannte,
geschützt war. Ich hatte sie mehrmals in Frankreich getroffen,
zuletzt in Rouen, also noch vor dem Krieg. Sie arbeitete in einem
Heim einer jüdischen Organisation, das Kinder, die durch die
Naziverfolgung elternlos geworden waren, beherbergte. Sie hatte
den Auftrag, im Lager den Eltern einzureden, ihre Kinder bis
zu 16 Jahren sozusagen im Stich zu lassen, um wenigstens diese
zu retten. Denn Kinder bis 16 Jahre waren — damals! — von der
Deportierung ausgenommen, wie es überhaupt Ausnahmericht¬
linien gab. So konnte Lisbeth, nachdem sie einen Taufschein
vorwies, nach einiger Zeit das Lager verlassen. Auch Max. Als
rumänischer Staatsbürger war er von der Deportierung verschont.
Interessanterweise schützten sowohl das faschistische Rumänien
als auch Horthy-Ungarn, deren Regierungen nicht gerade juden¬
freundlich waren, ihre Juden in Frankreich. Am selben Tag traf
ich noch ein deutsches Bruderpaar aus dem Lager in den Voge¬
sen. Sie meinten, was soll's, wozu sich da weiter aufregen, wenn
die Franzosen sie nicht behalten wollten, so würden sie eben in
Deutschland in einem Bergwerk arbeiten, sie hätten das auch
schon in Frankreich getan. Diese Meinung und diese Vorstellung
der beiden war die allgemein vorherrschende unter den Lager¬
insassen. Es waren Leute darunter, die sich bei Kriegsbeginn für
die Fremdenlegion werben ließen und die nun demonstrativ ihre
Wehrpässe zerrissen. Frankreich hätte sie fallen lassen, sie würden
eben jetzt nach Deutschland arbeiten gehen. Gerade in so einem
Lager kam einem die Perversität des deutschen braunen Terroris¬
mus zum Bewußtsein. Diese verfolgten, entrechteten und völlig
unpolitischen Menschen, die nur leben wollten, waren durchaus
bereit, auch unter Sklavenbedingungen zu arbeiten. Und sie wur¬
den stattdessen in die Vernichtung geführt. Andererseits schickte
man massenweise Leute aus den besetzten Gebieten Europas zur
Arbeit nach Deutschland, unter denen sich, wie gesagt, ein hoher
Prozentsatz an Widerstandskämpfern befand.

Ich hielt weiter Ausschau nach Bekannten und fand schlie߬
lich, die ich vor allem suchte, österreichische Kommunisten, von
denen ich den einen oder anderen kannte. Wir setzten uns zu
Beratungen zusammen. Das wichtigste war der Umstand, daß
eine Verbindung zu einem illegalen Stützpunkt in dem etwa 20km
entfernten Marseille bestand. Ein paar Tage später kam Anni.
Ich kam mit ihr zusammen, nachdem sie vergeblich versucht

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hatte, Eltern zu überreden, ihre Kinder herzugeben. Sie erzählte
mir unter anderem, sie wäre auf der Fahrt in der Bahn mit einer
älteren Frau ins Gespräch gekommen, die ihr erzählte, sie würde
ins Lager fahren, um irgendein Mädchen durch eine Scheinheirat
mit ihrem Sohn zu retten. Wer die konservative Haltung der
Franzosen in diesen Dingen, die damals zumindest vorherrschte,
kannte, kann erst die Iat dieser Mutter ermessen. In Anbetracht
der vielen Berichte über Verräter und Kollaborateure sollte man
nie vergessen, das Hohe Lied der einfachen braven Menschen zu
singen. Ihre Hilfe und Solidarität waren damals eine moralische
Stütze, die sich heute kaum ermessen läßt. Schließlich mußte Anni
gehen, und sie rief mir noch zu: „Schau dazu, daß du da heraus¬
kommst!“ Ja, wie man da hinauskommt, das war die wichtigste
Frage. Ich stellte zur Diskussion, ob es nicht möglich wäre, in
Anbetracht der relativ schwachen Bewachung, einen Aufstand zu
organisieren. Die anderen konnten mich leicht überzeugen, daß
bei der Haltung und Einstellung der Lagerinsassen ein Versuch
eines Aufstandes von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre
und uns nur mit ins Unheil ziehen würde. Es wurde beschlossen,
eine günstige Gelegenheit abzuwarten und auszubrechen.

Inzwischen begannen die Deportierungen. Es wurden alle in
den Hofgerufen und nach irgendeinem System oder rein willkür¬
lich namentlich aufgerufen. Die Aufgerufenen gingen mit ihrem
Gepäck ruhig und folgsam, eskortiert von ein paar Polizisten, zu
einem Zug, bestehend aus Vichwaggons, der auf einem ein paar
hundert Meter entfernten Geleis stand. Auf der Frauenseite, so
erzählte mir Lisbeth später, hätten sich Panikszenen abgespielt, als
man eine Tochter von ihrer alten Mutter trennte. Einer hätte sich
da besonders hervorgetan, es war der Chef!!? der faschistischen
französischen Miliz!” von Marseille. Auch er hat das Ende des
Krieges nicht überlebt. Es stellte sich nun heraus, daß die Be¬
wachung nach einem Transport nachließ. Wir beschlossen also,
uns während des nächsten Transports im Lager zu verstecken und
in der Nacht darauf auszubrechen. Damit die Sache reibungslos
ablaufen könnte, wurde mit einer Gruppe bulgarischer Spanien¬
kämpfer, die auch in diesem Lager interniert und nicht unmittelbar
bedroht war, vereinbart, daß sie sich in der Fluchtnacht um zehn
Uhr abends zusammensetzen und zur Ablenkung der Wachposten
ein bekanntes russisches Partisanenlied singen sollten. Es klappte
vorzüglich. Der Chor sang laut das Partisanenlied und wir klet¬
terten in ausgemachter Reihenfolge über den Stacheldraht. Ich
war der letzte. Blöderweise stieß ich schon jenseits des Zauns auf
einen Ziegelscherben und verursachte Lärm. Die anderen, wir
waren insgesamt sechs oder sieben, glaubten sich entdeckt und
liefen davon, so schnell sie konnten. So mußte ich mich allein die
20 km zum vereinbarten Treffpunkt in Marseille durchschlagen,
was mir ohne Schwierigkeiten gelang.

Beginn der illegalen Existenz

Den ersten Auftrag, den wir in Marseille bekamen, war, uns in
einem Fotoautomaten fotografieren zu lassen. Wir lieferten die
Fotos ab und hatten die folgenden drei Tage sozusagen Hausar¬
rest. Dann war es soweit. Wir bekamen Personalausweise, falsche
natürlich. Ich war nun George Robert Ziem, Sohn des Emil und
der Luise Griebel, Handelsangestellter, geboren in Colmar, also
Departement Haut-Rhin (Oberelsaß), französischer Nationalität,
wohnhaft in S£te (übrigens im Departement H£rault gelegen), mit
meiner neugebackenen Unterschrift und der des Polizeikommissars