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Auslöschung. Die Inquisition profitiert schamlos, in Absprache
mit den jeweiligen Staatsorganen, von den steten, den Juden
aufgezwungenen Fluchtbewegungen und Auswanderungen.
Dort, wo sie sich meist nur für kurze Zeit niederlassen können,
gelingt es ihnen selten, zu großem Reichtum zu kommen, der
ihnen Anerkennung und Sicherheit gewährleisten könnte. Ihr
Abgedrängtwerden in „schmutzige Handels- und Bankgeschäfte“
macht sie verdächtig, a priori schuldig. Ihr Geld wird ihnen unter
Folter konfisziert bei Zwangschristianisierung, und das Prozedere
wird als „legal“ ausgewiesen wegen der sündigen Berufstätigkeit
der Juden und der „schuldhaften Schamlosigkeit“ (sic) des Gel¬
des. Man schiebt sie in Berufe ab, die man verachtet, um sie um
so besser und leichter, also fast legitim, der allgemeinen gesell¬
schaftlichen Ächtung ausliefern zu können. Das nimmt ihnen
jede gesellschaftliche Achtung und jeden menschlichen Respekt,
letztlich jede anerkannte gemeinnützige Bedeutung.

Voltaire analysiert, vielleicht als erster, dass die sehr früh ein¬
setzende Judenverfolgung mit einer Ächtung einhergeht, die es
den Christen (staatlichen wie kirchlichen Einrichtungen folgend
und von denen tatkräftig unterstützt) ermöglicht, von Juden
völlig legal erworbene Vermögenswerte an sich zu reißen. Und
demonstriert fabelhaft luzide die Mechanismen dieser historischen
Dauererpressung, die religiös verbrämt wird.

Er schreibt, ausbrechend aus der reinen, sachlichen Analyse
seines Textes die Juden an:

Ich habe euch stets beklagt. Ich bin euer Diener, euer Freund. Euer
Bruder, obwohl mein Vater und meine Mutter mir meine Vorhaut
belassen haben.

Man spürt seine Ergriffenheit und Betroffenheit (er durchbricht
bewusst die kalte Historikerprosa): Er nimmt sie in Schutz gegen
die gehässigen und geläufigen Verleumdungen (Kindermord am
Karfreitag etwa), für die es keine Belege gäbe (Voltaire ist Histo¬
riker), gesteht, dass er „euch stets mit Mitgefühl („compassion“)
betrachtet hat.“ Er schafft damit den für einen Geschichtswis¬
senschaftler neuen Diskurs der Betroffenheit, in dem die direkte
Rede an das geschundene Volk legitim ist.

Er spricht die Juden direkt an in seinen Schriften. Ihm ist klar,
dass es mehrfach Opfer „versuchter Auslöschung“ geworden sind.
Niemand hat so klar wie der große Voltaire fast 200 Jahre vor der
von den Nazis geplanten „Endlösung“ eine solche als für ihn, den
Historiker, denkbare schaurige Möglichkeit im Rahmen des the¬
oretisch schon Fassbaren beschrieben, erahnt, auf das Warnschild
seines moralischen Denkens gesetzt. Er bescheinigt den Juden
seiner Zeit „parfaits Israelites“ zu sein, keine Schuld aufsich geladen
zu haben und sieht — vorausschauend! — in der Auswanderung
nach Judäa eine politische Lösung, die er unterstreicht: „So schnell
ihr es nur könnt.“ Er diagnostiziert damit klarer als irgendwelche
andere Zeitgenossen (unter denen es an Judenfreunden namentlich
unter den „philosophes“, den Aufklärern, nicht mangelt: Diderot,
Jaucourt, Meslier...) die Staatenlosigkeit der Juden als Grund
ihres historischen Schicksals des stets „vertriebenen, versklavten,
verleumdeten Volkes.“

Er rühmt ihnen, „mes amis les Juifs“, nach, religiös tolerant zu
sein, keine Konversionsversuche zu betreiben oder gar Zwangs¬
bekehrungen vorzunehmen. Im Sinne einer Selbstbezichtigung
hält er fest: „die Christen sind bis heute die intolerantesten aller
Menschen gewesen.“ Mit der ihm eigenen feinen Selbstironie
schließt er daraus: „es ist klar, dass wir alle Juden werden sollten.“

Subtil verfährt der große Dichter mit den biblischen Texten, die
für ihn keine geoffenbarten Schriften sind (darin trifft er sich mit

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theologischen Denkern der französischen Aufklärung), sondern
Zeugnisse von Menschen für Menschen, die deren geschichtliche
Erfahrungen schr subjektiv und parteiisch widerspiegeln. Folglich
mit Irrtümern behaftet, die kein Historiker ernst nehmen kann im
Sinne von belegten Fakten. Er hebt - sehr modern - hervor, dass
der Pentateuch die Hölle nicht kennt, ein für Voltaire besonders
abstoßendes Unterdrückungsinstrument der christlichen Kir¬
che. Moses deutet er modern als eine großartige, in vielen Teilen
mythische und mythologische Figur, die z.T. in Erfahrungen des
jüdischen Volkes wurzelt. Was und ob Moses geschrieben hat, kann
und will er nicht entscheiden, er entlässt ihn als Denkmodell in
einen dem Historiker verschlossenen Raum von Unsicherheiten.
Jesus, ein Vorbild an Toleranz und Klugheit, der keine schriftlichen
Botschaften hinterlassen hat, erlag der römischen Staatsarroganz
(Voltaire ist Pazifist), der Politangst eines briichigen Regimes, das
sich um seinen Bestand sorgen musste.

Was er mit beschrankten Kenntnissen an alttestamentarischen
Berichten und Lehren kritisiert, fallt unter den Begriff des An¬
tijudaismus und ist letztlich kongruent mit seiner meist herben
Kritik an christlicher Dogmatik, die freilich ganz anders scharf
ausfallt angesichts der kirchlichen Machtmissbrauche, die er le¬
benslang wiitend attackiert („Ecrasez l’infäme!“), wogegen er dem
Volk der Juden Beispiele an Toleranz attestiert, ebenso Jesus und
Moses, und sie alle miteinschließt in ein universelles religiöses
Toleranzverständnis: „Wie denn! Der Türke mein Bruder? Der
Chinese mein Bruder? Der Jude? Der Siamese? Ja, zweifelsfrei.
Sind wir denn nicht alle Kinder desselben Vaters und Geschöpfe
desselben Gottes?“ Er umarmt („embrasse“) die Juden: Sie sind die
ihm Nächstverwandten und in seinem Geschichtswissen stets die
von den Christen Bedrohtesten gewesen. In dem fulguranten Text
Rede des Rabbiners Akib, gehalten zu Smyrma, am 20. November des
Jahres 1761, aus dem Hebräischen übersetzt, geht der Autor gar so
weit, sich selber als Juden darzustellen: „Hört auf, ein ganzes Volk
zu verfolgen für ein einziges Vorkommnis, für das es nicht einmal
verantwortlich ist.“ Gemeint ist die Verurteilung von Jesus: „einzig
von den Römern getötet.“ Jesus hätte nie „seine“ Göttlichkeit
behauptet und nur die „Beachtung der Gesetze“ gefordert, die
Liebe zu Gott und den Nächsten. Und: „Käme er zurück, könn¬
te er sich kaum auch nur in einem Menschen wiedererkennen,
der sich als Christen ausgibt.“ Das ist dem Grofßinquisitor von
Dostojewski vorausgedacht, der -oh Wunder - einen russischen
Candide schreiben wollte. Die Juden, sagt Voltaire, haben ein
einziges Verbrechen begangen: „Das, geboren worden zu sein.“

Die heutige Nachwelt hat Voltaire seinen Einsatz für das Ju¬
dentum schlecht gelohnt. Im 18. Jahrhundert ist dessen Einfluss
enorm bei Theologen, Juristen und Historikern. In der Encyclopedie
wiederholt Louis de Jaucourt Voltaires Argumente und verdichtet
sie für ein großes Publikum:

Wenn man an die Schrecken denkt, die die Juden, seit Jesus-Christus
erdulden mussten, an die Blutbäder, deren Opfer sie unter eini¬
gen römischen Kaisern wurden und an die, die sich unentwegt und
zahlreich in allen christlichen Staaten wiederholten, kann man sich
nur darüber verwundern, dass dieses Volk überhaupt überlebt hat.

Und ganz im Sinne seines Freundes Voltaire benennt de Jau¬
court als Franzose das Judenleid als ein — auch — von seinem Land
begangenes Verbrechen:

Man hat es nicht versäumt, in Frankreich die Juden den gleichen
Misshandlungen auszusetzen wie überall: Man kerkerte sie ein,
man verkaufte (}) sie, man bezichtigte sie der Zauberei, des rituellen
Kindermordes, der Brunnenvergifiung. Man verjagte sie aus dem