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Königreich und ließ sie für Geld wieder ins Land zurückkehren. Und
in der Zeit, da man sie hier duldete (tolerait), zwang man sie, enteh¬
rende Kennzeichen zu tragen, die sie von den anderen Einwohnern
Frankreichs unterschieden.

In einer Zeit, die von den Schrecken des späteren Antisemitismus
des Faschismus nichts vorausahnen lässt, ist Voltaire der hellsich¬
tigste und einfühlsamste Vorausanalytiker eines möglicherweise
später einmal gegen die Juden gerichteten Vernichtungskamp¬
fes, eben des antisemitisme, ein Ausdruck, der im Französischen
erstmals 1886 belegt ist. In seiner Sensibilität ermüdet er nicht,
über Hunderte von Seiten hinweg das Schicksal der Juden en
detail zu benennen, erstellt sogar nach dem von ihm entdeckten
Dokumenten (erschreckende) Zahlenlisten der ermordeten Juden
und erlahmt nicht in der Stigmatisierung der Abscheulichkeit des
Judenhasses: „Die Kirche verbrennt Menschen jüdischen Glaubens,
obwohl sie selber auf dem Judentum errichtet worden war.“ Er
ermiidet nicht zu wiederholen: „Eigentlich sind wir auch Juden,
aber eben solche mit Vorhaut.“ Heinrich Mann hat es treffend
formuliert: „Voltaire hat für die Menschen im Staube gekämpft.“

Dass man heute und hier und nicht etwa im 18. Jahrhundert
Voltaire verteidigen muss (unter den Großen der Weltliteratur der
am gehässigsten Verfolgte, aber zugleich auch der größte Wohlcäter
unter allen Autoren), das ist mehr als ein Ärgernis, zumal in einem
Land, wo der belegte Antisemitismus, Rassismus und Faschismus
vieler Intellektueller verniedlicht oder geleugnet wird (Martin
Heidegger sei als nur eines von vielen Beispielen genannt). In
Dissertationen darf hierzulande der mutige Kampf von Voltaire
für Juden unwidersprochen in sein Gegenteil verkehrt werden.
Professorale Gutachter und Rezensenten pflichten bei.

„Voltaire ein Antisemit“ war mehrfach ein Thema für jüdische
Autoren und für Professoren und Journalisten am deutschen
Fernsehen in der letzten Zeit. Der Voltairianer und Literaturno¬
belpreisträger Anatole France hat schon 1894 geschrieben: „Der
Antisemitismus ist der’Tod der europäischen Kultur.“ Und Voltaire
des Antisemitismus zu bezichtigen (im Sinne von: Gerade unsere

Gerald Grassl

Dora Schimanko (1932 — 2020)

Geboren 1932 als Dora Kaldeck, gelang Dora Schimanko mit
ihrer Familie 1938 die Flucht nach Großbritannien: „Wir haben
es uns aussuchen können. Ob sie uns als Linke oder als Juden
verfolgt hätten, wäre in unserem Fall völlig egal gewesen.“

Zu ihren Leitsprüchen zählte daher (u.a. im Zusammenhang mit
der aktuell stets wiederkehrenden Forderung nach „Assimilation“
von Flüchtlingen zu schen): „Niemand war besser assimiliert
als die Juden in Wien. Genützt hat ihnen das 1938 gar nichts!“

Nach ihrer Rückkehr nach Wien 1946 engagierte sich Dora
zunächst in der überparteilichen „Freien Österreichischen Ju¬
gend“ (FÖJ) und später in der KPÖ, wurde Gärtnerin und dann
Sekretärin.

Nach ihrer Pensionierung begann sie die Geschichte ihrer Familie
niederzuschreiben. (Sie war u.a. Urenkelin des Kaufmanns und
kaiserlichen Ratsherren Max Schiff und die Nichte von Sir Karl
Popper; ihr Großvater Walter Schiff initiierte 1914 öffentliche
Ausspeisungen für arme Menschen, war Mitbegründer des ersten
Realgymnasiums für Mädchen und ‚Erfinder‘ des „Warenkorbs“ als
Grundlage der Berechnung der Inflationsrate durch das vormalige

verehrten Klassiker sind unbeschen und kritiklos gelesen worden),
ist ein Akt des aktiven und bekennenden, grobschlächtigen An¬
tisemitismus, dessen Vertreter die Auffassung vertreten, dass sie
durch einen großen Namen ihren Argumenten ein besonderes
Gewicht verleihen können. Mit der sattsam bekannten Häme:
Auch der große Voltaire ist Antisemit gewesen, und wir haben
ihn endlich entlarvt.

Nicht aufgefallen ist diesen meist akademischen Lügenschleu¬
derintellektuellen, dass nie Rechte und Antiaufklärer auch nur
den Versuch gemacht hätten, Voltaire für sich zu beanspruchen
und sich auf ihn zu berufen. Mit einer Ausnahme: Das haben die
Nazis versucht mit unglaublich dilettantisch angefertigten, also
gefälschten Texten, die einer der bedeutendsten Voltaire-Forscher,
Theodore Besterman (Herausgeber u.a. der Gesamtkorrespondenz
des großen Mannes seit 1946), entlarvt hat. Und der mir bekannt
hat, im fast unüberblickbaren CEuvre des Verfassers von Candide
nie ein als antisemitisch zu deutendes Urteil gefunden zu haben.

Da hatte schon der notorische Berufsantisemit Edouard Dru¬
mont, Verfasser der France juive (1886), Recht, als er, verärgert
und gehässig, feststellte, dass für ihn und seinesgleichen Voltaire
eben nicht zu vereinnahmen war: „Voltaire ist eben Jude.“

Charles Ofaire, geb. 1938, französisch-schweizerische Doppelexis¬
tenz. Studium der Romanistik, Germanistik, Philosophie und Musik¬
wissenschaft in Frankreich. Lehrer, später Professor für französische und
‚provenzalische Sprache und Literatur (u.a. in Marburg). Bücher über
Barbey d’Aurevilly Nodier, Mercier, Berlioz, Faschismus in Frankreich
etc. Romanautor (Moi, Fouquet,peintre du roi, 2018), Herausgeber
(Barbey, Correspondance Generale), Opernregisseur (Berlioz, LA
Damnation de Faust etc.), Musiker (Schüler von Messiaen), Lyriker
(Abflughafen für Schliessfachgedichte), Übersetzer (Freud, Kafka,
Barbey, Nodier...) Mitterrand hat ihn mit der Legion d’Honneur
ausgezeichnet. Er ist Mitglied des PEN.

Statistische Zentralamt in Österreich. Im englischen Exil figurierte
er als Ehrenpräsident des „Austrian Centre“. Doras Buch „Warum
so und nicht anders. Die Schiffs. Eine Familie wird vorgestellt“
erschien zuerst 2006 und 2011 dann im Verlag der Theodor
Kramer Gesellschaft.

Zugleich schien sie in ihrem schriftstellerischen Werk Versäum¬
nisse aus ihrer Jugend nachzuholen, indem sie wie besessen Ju¬
gendgeschichten verfasste, die stets von der Utopie einer besseren,
sozialeren Gesellschaft handelten.

So ist auch ihre Novelle „Zeiten“ (Wien: edition tarantel 2015)
eine utopische Geschichte, in der spekuliert wird, in welcher Weise
sich die Verhältnisse verändern würden, wenn ein Rechtspopulist
(der „Wahre Vater“) an die Macht käme...

Dora Schimanko nahm die Losung „Nie wieder!“ schr ernst.
Wo und wann immer sie befürchtete, dass „vergessliche Nazirela¬
tivierer“ aktiv würden, war sie als Rednerin bei Demonstrationen
und Kundgebungen zugegen. Gegen die zunehmende Rechtsent¬
wicklung im Land schrieb sie anlässlich des „Akademikerballs“
2014 in einem Offenen Brief an Bürgermeister Michael Häupl:

Dezember 2020 11