Ihr ganzes Leben setzte sich die international renommierte Schwei¬
zer Psychologin Alice Miller („Das Drama des begabten Kindes“)
für einen angemessenen Umgang mit Kindern ein. Sie schrieb
engagierte Briefe u.a. an den Papst und an den englischen Premi¬
erminister Tony Blair, in denen sie das zu ihrer Zeit noch selbstver¬
ständliche Schlagen von Kindern als die Wurzel des Bösen brand¬
markte. „Wenn ein Mensch“, so heisst es in einem ihrer Bücher,
„in eine kalte, gleichgültige Welt hineingeboren wird, betrachtet
er diese als die einzig mögliche.“ Doch ihr eigenes Kind wurde
vom Vater geschlagen - täglich und mit aller Brutalität, bis zum
sechszehnten Lebensjahr. Diesem unergründlichen Spannungsfeld
von überzeugender Theorie und gelebter Praxis spürt der Schweizer
Regisseur Daniel Howald in seinem neuen Film „Who's afraid of
Alice Miller?“ nach. Alice Miller wurde selbst in die kälteste aller
Welten hineingeboren: in das von den Nationalsozialisten besetzte
Polen, in dem sie ihre jüdische Herkunft zu verbergen suchte.
Mit gefälschter Identitätskarte überstand sie diese Zeit; doch wird
sie der Krieg ihr Leben lang nicht verlassen. Im Krieg lernte sie,
Entscheidungen rasch zu treffen und umzusetzen. Und sie lernte,
wie es ihr Sohn Martin, der Protagonist des Films, ausdrückt, zu
„kollaborieren“. Nur so konnte sie die Erpresser ruhigstellen, die
damit drohten, ihre wahre Identität der Gestapo zu melden. Wie
gejagtes Wild musste sie ihren eigenen Worten zufolge ständig
ihre Umgebung beobachten und den Nachstellern ausweichen.
Auch nach Kriegsende „kollaborierte“ sie — diesmal mit ihrem
Mann, dem Vater Martins, dessen Prügelorgien sie stillschwei¬
gend zu dulden hatte. Nachdem zuvor die nur allzu begreiflichen
Anklagen des Sohns gegen die Mutter im Vordergrund standen,
wendet sich die Aufmerksamkeit des Films allmählich dem (ka¬
tholischen) Vater zu. Auch Andrzej, der später Hochschulprofessor
für Soziologie in Zürich werden sollte, überstand die NS-Zeit in
Polen; doch liegen dessen Vergangenheit und frühere Identität
völlig im Dunklen. Der Sohn spürt der Identität des Vaters in
den Archiven von Warschau und Lodz nach, wobei sich die pol¬
nischen Behörden, die die Herausgabe wichtiger Dokumente
verweigern, als nicht eben kooperativ erweisen. Das Ergebnis der
Recherche soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Doch liegt
in eben dieser Vergangenheit der Grund dafür verborgen, dass
Alice Miller in langen und abschnittsweise überaus aggressiven
Briefen ihren Sohn davor warnt, wie sein Vater („mein Peiniger“)
zu werden. Und selbst die Beziehung Adolf Hitlers zu dessen
prügelndem Vater hält sie ihrem Sohn, den sie nicht beschützen
konnte, als warnendes Beispiel vor Augen — Martin möge nicht
so werden wie Hitler...
Der Dokumentarfilm legt ein ebenso eindrucksvolles wie verstö¬
rendes Zeugnis darüber ab, wie der Zweite Weltkrieg noch heute in
den nachfolgenden Generationen wütet. Der „Zivilisationsbruch“,
der damals stattfand, konnte nie vollständig gekittet werden. Die
Whos afraid of Alice Miller?
Dokumentarfilm, Schweiz 2020, 101 min
Kinoversion: Schweizerdeutsch, Deutsch, mit deutschen oder engli¬
schen Untertitel
Buch und Regie: Daniel Howald
Produktion: SwissDok GmbH, SRF Schweizer Radio und Fernse¬
hen; Produzent: Frank Matter (soapfactory.ch); Verleih: Royal Film
(royal-film.ch)
Mit: Martin Miller, Irenka Taurek, Cornelia Kazis, Oliver Schubbe,
Ania Dodziuk, Katrin Stoll, Martin Sander, Matan Shefi, El;bieta
Janicka, Katharina Thalbach als Stimme von Alice Miller
Der Termin des Filmstarts in Österreich steht noch nicht fest.