OCR Output

das darf ich doch nicht lesen. Das geht mich nichts an. Mein
Vater steckt die Karte auch gleich wieder ein.

„Wieso sind Sie nicht weggegangen?“, frage ich Klein. „Meine
Frau ist seit langer Zeit schr krank. Wir wären nach Israel gegan¬
gen,“ sagt er, „aber sie verträgt das Klima nicht. In Israel gehe
ich auf der Straße, lauter fremde Menschen und ich fühle mich
zu Hause. Hier bin ich zu Hause und fühle mich fremd. Es war
einmal“ sagt er traurig, wie in Grimms Märchen. „Die Pepi“, sagt
er, „hatte in den letzten Jahren die Allüren einer Gräfin. Sie ließ
nichts gelten. Wien hat sie verdorben. In Bielitz war sie nicht so.“

Beim Frühstück am nächsten Tag sagt mein Vater noch: Auf
der 3. Mai Straße sind wir täglich zwei Stunden promeniert, alle,
jung und alt. Auf der Terrasse des Hotel President hat man Schach
gespielt, auch die Professoren.

Wir fahren über Wadowice nach Krakau. In Wadowice hat
mein Vater in der Kaserne gedient. Wir gehen durch die Fu߬
gängerzone des Städtchens, in dem der Papst geboren ist. Über
dem Portal der Kirche hängt sein Portrait. Der Vater des Papstes
war Unteroffizier und ‚Instruktor‘ meines Vaters. Er erzählt mir,
dass er hier eine gute Zeit gehabt habe, sei unter den jüdischen
Mädchen des Städtchens der ‚Hahn im Korb“ gewesen. Da hat
die Elvira gewohnt, erzählt er, die Tochter des Fleischers. Mein
Vater liebt es, sich als Playboy darzustellen. „Die Polinnen sind
sehr fesch“, stellt er immer wieder fest. Tatsächlich gibt es hier
viele schicke Frauen, meist schr stark geschminkt.

In Krakau spazieren wir zu Fuß ins Zentrum, bis zum Platz
vor den Tuchhallen. „Hier hat man Jörgl erschossen. Der Jörgl
hat sich bis 45 durchgebracht. Dann hat ihn jemand erkannt,
der ihn aus Bielitz gekannt hat. Der habe zu ihm gesagt: wenn
Du kein Geld hast, ich bring Dir ein paar Fische, die kannst Du
verkaufen. Sei morgen hier bei den Tuchhallen. Mir kannst Du
vertrauen, wir kennen uns doch von früher.“ Als Jörgl zum ver¬
einbarten Treffpunkt kommt, sieht er schon die SS. Er beginnt
zu laufen, da erschießen sie ihn. Das hat Edda, die Freundin von
Jörgl, meinem Vater, der sein bester Freund gewesen ist, nach
dem Krieg erzählt.

Am Nachmittag treffen wir Herrn Jakubowicz und Tante. Beide
leiten das, was sich in dieser Stadt Kultusgemeinde nennt, vertreten
600 Juden, fast nur alte Leute.

Mein Vater war mit dem Mann der Frau Jakubowicz befreundet
gewesen, hatte ihn beim Militär kennengelernt. Sie erzählt, ihr
Mann habe im Jahr 1968 im Ausland einen Mercedes gekauft und
über die Grenze gebracht. Ein paar Wochen später, in der Synago¬
ge, bemerkte er eines Tages, dass sich Leute um ihn herumdrehen.
„Sei hobn sich herimgedreiht.“ Einer hat ihn angesprochen, ein
Jude aus dem Kulturverband. Er soll eine Erklärung der Juden
Polens unterschreiben, in der Israel verurteilt wird. Jakubowicz
hat sich geweigert. Der Mann hat gesagt: Du wirst noch gerne
unterschreiben. Die anderen Juden Krakaus, an die der Mann
herangetreten ist, haben alle gesagt: Wir unterschreiben nur, wenn
Jakubowicz unterschreibt. Jakubowicz überlegt sich, nach War¬
schau zu seiner Schwester zu fahren, bleibt aber dann in Krakau.
Zu Sukkot gehen sie nicht in die Synagoge. Ins Haus kommen
mehrere Personen — wie die Gestapo — und beginnen, sie zu ver¬
hören. Es kommen Anrufe von Freunden, die sich erkundigen,
warum die Jakubowicz nicht in die Synagoge gekommen waren.
Frau Jakubowicz wird aufgefordert, zum Telefon zu gehen. Es stellt
sich heraus, dass ihr Mann schon in Wien bespitzelt worden ist,
dass man ihn dort auf Schritt und Tritt verfolgt hat. Da er sich
noch immer weigert, die Erklärung zu unterschreiben, nehmen

sie ihn fest. Er war sechs Monate im Gefängnis, zog sich eine
Lähmung zu. Daran starb er kurz nach seiner Entlassung.

Sein Neffe führt uns mit dem zwanzigjährigen Mercedes, nun
fast ein Oldtimer, zur Kultusgemeinde. Das Haus wird renoviert.
So stellte ich mir immer die Büros von Joint oder Hias während
des Krieges vor, einfach, aber es passiert viel. Es liegt diese Atmo¬
sphäre von Aktivität in der Luft. Vielleicht haben die Wände die
Ereignisse, die sich während des Krieges hier abgespielt haben,
aufgesogen und atmen sie noch aus. Schr alte Menschen sind da
und essen. Herr Jakubowicz und seine Frau führen uns danach
in das alte jüdische Viertel von Krakau, in eine wunderschöne
Synagoge, die aber fast einstürzt vor Baufälligkeit. Die Balust¬
rade hat holzgeschnitzte Verzierungen. Frau Jakubowicz hat die
‚Mäntelech‘ für die ‚Toires‘ gemacht. Am nächsten Tag, sagt sie,
werde Ronald Lauder kommen. Sie wollen, dass er Geld für die
Synagoge auftreibt. Sonst wird sie „zigenimmen“. „Men nemmt sie
zi“, wie alles andere, und macht daraus vielleicht einen Tanzsaal.

Drei Synagogen sind erhalten, eine aus dem 14. bis 15. Jahr¬
hundert, darin befindet sich jetzt das Jüdische Museum. Herr
Jakubowiczhat mit dem Staat ausgehandelt, dass dieser einen
Zloty jährlich symbolisch zahlt, aber die Synagoge im Eigentum
der Kehile (Gemeinde) bleibt, eine andere aus dem 16. Jahrhun¬
dert nach dem berühmten Ruf Remu benannt. Chassidim aus
der ganzen Welt kommen zu seinem Grab, das sich am Friedhof
rund um die Synagoge befindet, und werfen Bittschriften ein wie
an der Klagemauer.

Die Jakubowiczs geben uns eine Konserve Gefilte Fisch sowie
Kalbsgulasch mit, da wir hier wenig essen können, alles wird mit
Schmalz gekocht.

Fahrt nach Warschau. Unebene, holprige Straßen, Pferde, mit
denen man die Felder pflügt, wie in den Jahrhunderten davor.
Kühe, Ziegen, Gänse, Schafe. Dürre Äste ragen in den Himmel.
Die Luft ist schlecht. Mein Vater bemerkt das gar nicht. Wenn wir
hinter einem Laster fahren, hüllt uns aus dem Auspuff eine schwar¬
ze Wolke ein. Keine frische Landluft mehr, nirgends, auch nicht
im Wald. Irgendwo steht ein Pferd für sich allein am Straßenrand.
Es kann jederzeit auf die Straße rennen. Smog - hellgraue Suppe.

Dezember 2020 39