Schließlich Warschau. Breite öde Straßen, gesäumt von nach
dem Krieg neu errichteten Häusern. Warschau war fast völlig
zerschossen, zerbombt. Geballte, monumentale Hässlichkeit. Die
Menschen kriechen wie Ameisen in diesen grauen Straßenzügen
umher, verloren, klein.
Als wir am Kulturpalast vorbeifahren, erklärt uns der Taxifahrer
abschätzig: „Das haben uns die Russen her gebaut, hergebaut?
keiner wollte das.“ Die Gebäude sind abweisend. Die Altstadt
wurde nach dem Krieg vollkommen rekonstruiert. Man merkt es
nicht, denn die Häuser sind wieder im Verfall begriffen.
Im Nationalmuseum von Warschau werden sozialistische Ar¬
beiterlieder auf Tonband abgespielt. Man hört zu, während man
die Ikonen aus dem 15. Jahrhundert ansieht oder die italienischen
Renaissancemaler. Am lautesten sind sie natürlich im Saal mit
den Plakaten zu hören, eines besonders beeindruckend - eine
Amerikanerin, daneben ein Landarbeiter und Landarbeiterinnen
in blauen Kitteln mit den Werkzeugen in der Hand. Eine Skulptur
- eine Bauersfrau, die einer Kuh den Trog hinhält. Jemand hat sich
den Scherz erlaubt und in den Trog eine 5-Dollar-Note gelegt.
Die Musik wird hie und da durch ein Geräusch, das wohl den
Zusammenbruch der alten Welt symbolisieren soll, unterbrochen.
Es hört sich an, als ob Gebäude einstürzen. Dann geht die Musik
mit frischem Elan weiter. Die Bilder hängen lieblos, die Säle sind
so angestopft mit Heiligenbildern, dass man die Schönheit des
einzelnen gar nicht genießen kann oder will. In jedem Saal sitzt
auf einem Stuhl ein Aufpasser mit grauem Gesicht. Manche lesen.
Vor der Abreise setzen wir uns ins Restaurant des Hotels, das
eine Art Exterritorialität darstellt, ich mit dem seltsamen Gefühl,
hier alles zu bekommen, was den Polen unerschwinglich ist.
Neben uns — ein Mann und eine Frau. Wir kommen ins Ge¬
spräch, er nach ein paar Sätzen: „Ich bin Jude.“ Ein Mann und
eine Frau. Vater und Tochter wie wir. Aus Melbourne. Auch ihm
kommt, wie meinem Vater, alles klein vor. Auch er war — wie
mein Vater — an diesem Vormittag am Jüdischen Friedhof. Sie
ungefähr so alt wie ich, Ärztin, er — geboren in Bialystok — hat
an einem Kongress teilgenommen zum Ihema „500 years Jewish
settlement in Bialystok“.
Jakubowicz hat gesagt: „Es ist Niele mit dem Judentum in
Polen.“ (Niele ist das Schlussgebet zu Jom Kippur).
Ich bin in Polen und habe Sehnsucht nach Polen. Die Sehnsucht
wird hier nicht gestillt. Ich lese von Martin Pollack: „Reise nach
Galizien“ — und lese darin auch den Satz: „Die Reise soll man
nicht tatsächlich unternehmen, denn die Landschaft ist grau,
farblos, es ist die Vergangenheit aus ihr nicht zu erkennen.“ Eine
untergegangene Welt.
Auch die junge Frau schreibt ein Tagebuch. Sie sagt, sie hat das
Bedürfnis, die Fülle der Eindrücke am Abend zusammenzufassen.
Budzöv. Hier, sagt mein Vater, sind am Sonntag nach der Kirche
Bauern gestanden. Die Kirche liegt aufeinem Hügel, hinaufführt
eine kleine Allee. Auch die Volksschule ist noch da. Der Fluss,
wo sie gebadet haben, die Enkel meines Urgroßvaters. Dieser
hatte in dem Dorf ein großes Haus gebaut. Darin befand sich
eine Schenke, eine Bierfüllerei, eine Bäckerei und ein „Spezerei¬
geschäft“, so eine Art Krämerladen. Er und seine zweite Frau
hatten zusammen vierzehn Kinder. Mein Urgroßvater hatte neun
Kinder in die Ehe mitgebracht, meine Urgroßmutter eines, das
war meine Großmutter, und zusammen hatten sie noch vier. Sie
machten keinen Unterschied zwischen den Kindern.
Das Haus hatte hinten einen Stall beziehungsweise eine Garage,
darin befindet sich heute ein Restaurant, im Haus selbst die Post,
ein Lebensmittelladen, ein Ersatzteilladen für Mechaniker, davor
eine Bushaltestelle.
Als wir ankamen, standen viele vor dem Haus versammelt,
auch zwei Pferdefuhrwerke sind da. Ein Bild wie aus Shoah.
Abgearbeitet wirkende müde Gesichter.
Mein Vater sagt, das Haus habe seinem Großvater gehört, er
habe es gebaut. Eine Frau sagt, sie erinnert sich, sie kannte die
Pepka und den Hennek, den Onkel, der das Haus übernommen
hatte. Auch der Nachbarsbub ist da. 73, also fast so alt wie mein
Vater, ein ärmlich wirkender Mann mit zerfurchtem Gesicht und
scharfen Augen. Er erinnert sich an meinen Vater, den Bubek.
Der Maschlonka, sagt mir mein Vater später, hat mir erzählt, er
wurde nach ... geschickt, als die Großmutter gestorben war, um
den Gronners zu berichten, dass sie tot war. Damals gab es noch
keine andere Möglichkeit, etwas über Orte hinweg mitzuteilen.
Der Bub ist zu Fuß gegangen. Der Maschlonka hat noch immer das
Bauernhaus daneben. Der Stall schließt direkt weg an der Küche
an. Man öffnet die Tür und ist im Stall. Früher, sagt mein Vater,
war der Stall in der Küche. Zwei Schweine, ein paar Hühner, zwei
Kühe. Ein paar kleine Felder. Schr arme Leute. Mein Vater teilt
Schokolade aus. Auch Mandarinen. Der Mann aus dem Westen,
der Mandarinen verteilt.
Hier hat die Armut dieser Leute etwas für mich Beschämendes.
Eine sagt, sie habe den Mann von der Pepka 24 Stunden lang
versteckt. Mein Vater sagt mir nachher, man habe ihn gefunden
und erschossen.
Heißt das, Wurzeln haben, hat man dort Wurzeln, wo die Fa¬
milie über Generationen hinweg gelebt hat? Das muss ein anderes
Gefühl sein, in so einem Land zu leben, Großeltern zu haben,
die noch von ihren Großeltern erzählen. Vielleicht ist das die
Heimatlosigkeit, Bodenlosigkeit. Peter sagte immer, es ist ein
Generationenproblem.
Ich sche dieses Haus an, das mein Urgroßvater gebaut hat, und
wundere mich über die Beständigkeit und Wandlungsfähigkeit
von Gemäuern. Sie ändern sich und bleiben doch gleich. Passen
sich an und doch wieder nicht. Ein schiefer Winkel bleibt schief.
Es sind zu wenige Fenster da für ein Restaurant, sie müssen am
helllichten Tag hier Licht machen, weil mein Urgroßvater hier
nur drei kleine Fenster gemacht hat, für einen Stall.
Und hinten, im heutigen Magazin, da sind noch die Backöfen
zu sehen. Da hat mein Vater, als er einmal allein im Geschäft
stand, vor dem Spiegel eine Szene mit Revolver probiert. Den
Revolver hatte mein Urgroßvater in der Lade. Fast hätte der Bub
abgedrückt, da ist ein Kunde hereingekommen und wollte ein
paar Eier. Danach ist mein Vater zurückgegangen und hat, bevor
er sich den Revolver an die Stirne gedrückt hat, ausprobiert, ob
er geladen ist. Es hat sich ein Schuss gelöst.
Mein Urgroßvater hieß Fischgrund. Auch die Lola und der
Harry aus Wien sind immer hierhergekommen. Vater war jeden
Sommer da, mit seiner Schwester, bis zum 20. Lebensjahr. Im
Sommer, sagt er, waren immer dreißig Personen im Haus. Da,
wo er geschlafen hat, ist jetzt die Post untergebracht.
Die Landschaft ist hier sehr idyllisch. Überhaupt sind die Orte
an dieser Landstraße hübsch, schr rückständig. Viele Menschen
zu schen, Menschen, die mit Pferden pflügen oder händisch am
Feld arbeiten.
Wir fahren weiter nach Auschwitz. Hat es mich berührt oder
war ich, wie Philip Roth in seinem Buch „An Anatomy Lesson“