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verwandeln, aufhören, unbeschwert zu lachen und die Haare im Wind wehen zu lassen? Das Hotel liegt am Stadtrand, die Glasfassaden werden seltener, und zwischen den Gebäuden macht sich an allen freien Stellen die Wüste bemerkbar: feiner Sand, vereinzelte stachelige Pflanzen, feindselige Unwirtlichkeit. Im Auto die Bildschirme neben dem Lenkrad, auf den Riickenlehnen vor uns, auf denen Musikvideos laufen, halbnackte Frauen, die sich verführerisch in einer bunten Fantasiewelt räkeln, Männer, die hoffnungslos eine Schöne anschmachten, die stark und selbstbewusst ihren Weg geht, dazu die Musik, die von Liebe und Schmerz trieft. Ich frage mich, wie diese Bilder zu der Realität passen, von der ich bis jetzt nur einige Blitzlichter geschen habe. Das Hotel ist neu, Marmor und Kristallluster, dicke Teppiche und schwere Vorhänge schlucken den Lärm und sorgen für vornehme Stille, die Klimaanlagen blasen lautlos kühle Luft in die Räume. Die Gäste bieten ein buntes Bild: Zwischen arabischen Familien sitzen westlich gekleidete Menschen, die offensichtlich beruflich unterwegs sind — Tourismus gibt es jakaum. Auf dem großen Bildschirm im Frühstücksraum läuft eine Nachrichtensendung von BBC, man sicht Bilder aus Paris, vom Brand der Kathedrale Notre Dame, doch niemand schenkt dem Beachtung. Mounia Mounia blickt in das glitzernde Wasser des Pools, es ist heiß, der Wind kommt aus der Wüste und bringt keine Abkühlung. Die Luft ist gelb vom aufgewirbelten Sand, der wie ein feiner Nebel in jede Ritze dringt und beim Atmen reizt. Auch die Kinder husten, Mounia sieht ihnen beim Baden zu, Djamila und Aliza sind bunte Fische im Blau, sie selbst steht am Rand, der Saum ihrer Abaya ist nass geworden, gerne wäre auch sie so ein bunter Fisch, irgendwo in ihren Erinnerungen findet sich noch ein Bild, ein Gefühl, wie es war, als sie das kühle Wasser auf ihrer Haut, in ihren Haaren spürte. Als Djamila aus dem Wasser steigt, drückt Mounia sie ganz fest an sich, bis sie die kühle Nässe des Mädchens durch ihre Abaya spüren kann, dann nimmt sie ein Handtuch und trocknet das Kind ab. Aliza will nicht aus dem Wasser kommen, sie spritzt lachend ihre Mutter an, und einen Moment lang ist Mounia wieder ein bunter Fisch. Ich Ich möchte so viele Eindrücke wie möglich aufsaugen, verstehen werde ich nicht vieles, aber wahrnehmen will ich diese Welt. Wahr nehmen heißt, mit allen Sinnen zu spüren, dass das Leben hier tatsächlich so abläuft, wie wir es zwar gehört oder gelesen haben, allerdings ohne uns vorstellen zu können, dass es wirklich so ist. Wenn ich ein wenig davon wahr nehmen kann und es mitnehme in mein Leben, den Eindrücken einen Platz gebe, mache ich vielleicht einen Schritt in die Richtung des Verstehens. Wir treten aus dem Hotel vor das Tor, die Hitze überfällt uns, die trügerische Kühle der Klimaanlagen, das künstliche Licht, die getönten Scheiben haben das Draußen ausgeblendet. Als ich, in meine schwarze kühle Abaya gehüllt, in dem bequemen Lederfauteuil saß, dachte ich kurz, genauso gut könnte es Winter sein, draußen schneien, es würde an der Atmosphäre in diesem Aquarium nichts ändern. 52 ZWISCHENWELT Doch dann blendet mich die Sonne, tränen meine Augen vom Licht und vom Sand, ich strecke die Arme aus, lasse meine Fledermausflügel im Wind wehen und mache mich bereit für das, was uns erwartet. Der Verkehr aufden breiten Straßen Nließt ruhig, fast alle Autos sind weiße SUVs, weiße Autos heizen sich in der Sonne am wenigsten auf, genauso wie die weißen Hemden der Männer. Warum müssen die Frauen dann Schwarz tragen, frage ich mich. Wir sehen niemanden, der zu Fuß unterwegs ist, keine öffentlichen Verkehrsmittel, nur den monotonen Strom weißer Autos mit getönten Scheiben. Manchmal kann ich dahinter ein Augenpaar erkennen, das neugierig zu uns herüber schaut. Dann plötzlich ein Stocken im Verkehrsfluss, ein Hupkonzert, aufgeregte Stimmen, ich denke, ein Unfall, schaue aus dem Fenster, um die Ursache der Aufregung zu erkennen. Es ist nicht klar, ob die Stimmen wütend oder nur aufgeregt sind, ob jemand beschimpft wird oder ob man einander einfach nur auf etwas aufmerksam macht. Und dann sche ich, was der Grund der Aufregung ist: Eines der großen weißen Autos wird von einer Frau gelenkt. Es sicht aus, als hätte sie Angst vor dem Tumult rund um sie, als würde sie am liebsten unsichtbar werden, sie sieht starr vor sich hin. Langsam fahren wir vorbei und lassen den Stau hinter uns. Elem Elem steht am Straßenrand, den Rücken zu den vorbeifahrenden Autos und bewegt sich nicht. Der große Platz ist leer, alles sauber, vergebens versucht Elem, in den Spalten zwischen den Pflastersteinen Spuren von Blut zu sehen, sie starrt auf den Boden, bis es auf ihrer Netzhaut zu Himmern beginnt, hält sich dann die Hand vor das Gesicht, wischt sich mit den Tränen ein paar raue Sandkörner in die Augen. Seit Said verschwunden ist, kommt sie immer wieder hier her, magisch angezogen von diesem Platz, der so harmlos, so friedlich aussieht, die in den Autos vorbeifahrenden Menschen wenden nicht einmal den Kopf, würdigen ihn keines Blickes. Sie schließt die Augen, hört das Gebrüll der Menschen, sieht die zornigen Blicke, spürt die Wut, die nicht mehr gebändigt werden kann, ohne dass man ihr ein Opfer bringt. Ein Opfer, die kleine gekrümmite Gestalt, die sie nur erahnen kann in der Mitte der Menschenmenge. Danach wird gründlich gereinigt, mit kräfiigem Wasserstrahl aus dicken Schläuchen wird das Blut weggespült. Als Elem die Augen wieder öffnet, bemerkt sie, wie ein vorbeifahrendes Auto langsamer wird, sieht Köpfe, die sich dem Platz zuwenden, Augen, die ihrem Blick begegnen. Sie glaubt einen kurzen Moment lang, Abscheu und Unverständnis darin zu lesen. Sie weiß, dass sie noch mehrmals hierher kommen wird, es lässt sie nicht los, und irgendwann wird Said die kleine gekrümmte Gestalt sein. Ich Die Frau, die am Straßenrand vor dem leeren Platz stand, der so unschuldig in der Hitze liegt, hat kurz hergeschen, als wir langsam vorbeifuhren, es sah aus, als hätte sie einen Grund, hier zu stehen. Ich habe ihren Blick gespürt und versuche die Bilder und Töne zu verscheuchen, die sich in meine Gedanken drängen. Unzählige Einkaufszentren säumen die Straßen, bekannte Marken finden sich neben solchen, von denen ich noch nie gehört