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mit der Handlung verwobene reale Verbrechen
bei. Wie man im Nachwort erfährt, sind dies
etwa die Ermordung Hugo Bettauers oder Fälle
von antisemitisch motivierten Angriffen durch
Burschenschafter aufjüdische Studentinnen und
Studenten der Universität Wien. Gemeinsam
mit anderen Verbrechen, wie den brutalen Se¬
rienmorden des Fritz Haarmann oder den soge¬
nannten “Autofallen”, bei denen Räuberbanden
Drahtseile über Autostraßen spannten, um die
Insassen auszurauben, bilden sie im Roman die
“Welt der Kolportage”.

Der Roman erzählt jedoch nur oberflächlich
betrachtet die abenteuerliche Geschichte eines
Versicherungsbetrugs. (Dennoch soll an dieser
Stelle darauf verzichtet werden, allzu viel von
der weiteren Handlung preiszugeben.) Vielmehr
verhandelt Lazar in ihrem Protagonisten Ernst
von Ufermann die Erfahrung, das gewohnte
Leben zu verlassen und sich mit existenziellen
Fragen wie “was macht meine Identität aus?” und
“entspricht meine Wahrnehmung der Wirklich¬
keit?” konfrontiert zu schen. Dies spiegelt sich
in der Schreibweise Lazars wider: Durch den
raschen Wechsel der Erzählmodi führt sie uns
oftmals fast unbemerkt von der Erzählung in die
Gedankengänge eines Protagonisten oder eines
unbeteiligten Passanten, sodass man zuweilen
den Überblick verliert — ganz so wie zahlreiche

Figuren des Romans, allen voran der Bankier
Ernst von Ufermann. Ausgelöst wird die Iden¬
tütätskrise und letztendlich auch der Weg zur
Selbsterkenntnis durch Ufermanns Untertau¬
chen, durch seine “Flucht”. Johann Sonnleitner
weist in seinem Nachwort daraufhin, dass diese
Flucht im Roman gedanklich immer wieder mit
der Judenverfolgung in Europa verbunden wird,
und Lazar so “auf indirekte, aber eindringliche
Weise die Erfahrung von Vertreibung und Exil
[reflektiert] ”.

Deutlich zu Tage tritt auch Maria Lazars “tiefes
Zeitgefühl”. Sie thematisiert die ökonomischen
Abstiegserfahrungen des Bürgertums genauso
wie den immer brutaler um sich greifenden An¬
tisemitismus. An vielen Stellen zeigt sich dabei
auch ihre satirische Begabung, etwa wenn sie die
sich zurückgesetzt fühlenden, Ressentimentgela¬
denen Vertreter eines deklassierten Bürgertums
porträtiert, oder wenn sie einen fanatischen Nazi
und Burschenschafter mit Allmachtsphantasi¬
en und inzestuösen Gefühlen gegenüber seiner
dem Bild der perfekten Arierin entsprechenden
Schwester ausstattet. So zeichnet der Roman ein
sozialpsychologisch genaues Bild der Berliner
und Wiener Gesellschaft der frühen 30er Jahre,
eine Gesellschaft, in der nur wenige “ein Beben
tief unter dem steinernen Häusermeer, unter
den Kanälen, unter den Maulwurfsgängen der

Die Geschwister Maria Leitner (1892 — 1942)
und Johann Leitner (1895 — 1925) erlebten im
März 1919 die Errichtung und bereits 133 Tage
später die Niederschlagung der ungarischen Rä¬
terepublik. Beide begrüßten diese grundlegende
Veränderung der gesellschaftlichen Kräftever¬
hältnisse, sie erlebten aber auch das jähe Ende
ihres gesellschaftspolitischen Traums und mussten
nach der Machtübernahme der Weißen Truppen
unter Miklös Horthy aus Ungarn fliehen. In
Die Träume der Märtyrer. Menschenschicksale in
Ungarn und Amerika haben Helga und Wilfried
Schwarz literarische und journalistische Texte
beider AutorInnen neu aufgelegt und lassen
damit zwei ZeitzeugInnen zu Wort kommen,
die vom revolutionären Aufbruch und den geg¬
nerischen Kräften, von Ernüchterung aber auch
von Hoffnung erzählen.

Die Träume der Märtyrer ist dem Andenken
von Johann Leitner gewidmet, der unter dem
Künstlernamen Johann L£kai, nach seiner Emig¬
ration in die USA 1922 unter dem Namen John
Lassen publizierte. Im Band enthalten sind seine
Erzählung Rot und Weiß (1921)', die von einer
Gruppe ungarischer EmigrantInnen berichtet,
die nach dem Ende der Räterepublik nach Wien
fliehen, und der Roman Herren und Sklaven.
Roman aus dem amerikanischen Arbeiterleben’,
in dem von den zwei Emigranten Gulis Nickles
und Joe Vasas erzählt wird, die es Anfang der
1920er Jahre nach Colorado Springs verschlägt.

Ergänzt werden die Schriften von kürzeren jour¬
nalistischen Beiträgen und von zwei Nachrufen
auf Lekai. Von Maria Leitner wurde die Novelle
Sandkorn im Sturm (1929)° aufgenommen, die
im Jahr 1919 in einem burgenländischen Dorf
spielt, in dem die Revolution partout nicht an¬
kommen will.

Lekais/Lassens Texte werden in Die Träume
der Märtyrer erstmals seit ihrer Entstehung in
den 1920er Jahren wieder zugänglich gemacht.
Das Werk Maria Leitners ist in den letzten 20
Jahren sukzessive von Helga und Wilfried Schwarz
in diversen Neu- und Erstauflagen erschlossen
worden, mit der Wiederveröffentlichung von
Sandkorn im Sturm stehen ihre literarischen Arbei¬
ten heutigen Leserlinnen nun wieder vollständig
zur Verfügung. Begleitet werden die Texte von
einem einleitenden Vorwort, im Anhang finden
sich nützliche Hintergrundinformationen. Die
HerausgeberInnen liefern so eine Leseausgabe
für ein interessiertes, nicht notwendig aber
spezialisiertes Publikum. An den Standards
historisch-kritischer Ausgaben ist die Edition
dabei nicht orientiert, für eine wissenschaftliche
Beschäftigung mit den Texten lohnt sich also die
Konsultation der Erstausgaben.

Die beiden längeren Erzähltexte von Lekai/
Lassen haben auf den ersten Blick nicht viel
miteinander gemein — weder hinsichtlich der
geschilderten Ereignisse noch der stilistischen

Untergrundbahn” spüren, während die ande¬
ren, blind gegenüber den Sorgen “der Vielen”,
in ihren Autos auf “weichen Pneus” über “den
weichen, schmeichlerischen Asphalt” (S. 14)
gleiten; eine Gesellschaft, in der die Welt der
Bankiers, Hofräte, Baroninnen verächtlich und
wohl auch furchtsam auf jene der “Viel zu vie¬
len”, denen das Leben verboten ist, blickt. Und
in den Fugen zwischen diesen Welten scheint
sich die “Welt der Kolportage” festzusetzen. Der
jüdische Professor Frey, mit dem sich Ufermann
anfreundet, meint an einer Stelle des Romans:
“Die Welt der Kolportage, lieber Freund, ist gar
nicht so weit entfernt von jeder Wirklichkeit, wie
Sie es meinen. Ich könnte ihnen Dinge erzählen
—” (S. 165)

Maria Lazar erzählt von diesen Dingen, von
einer beklemmenden Wirklichkeit, und führt
vor Augen, wie fragil die Vorstellung der eigenen
Identität, aber auch wie fragil eine durch Krisen
geschwächte Gesellschaft sein kann.

Corina Prochazka

Maria Lazar: Leben verboten! Mit einem Nachwort
hg. von Johann Sonnleitner. Wien: DVB 2020.
380 5. € 26,¬

Gestaltung. Rot und Weifist expressionistischen
Darstellungsverfahren verpflichtet, die Wahr¬
nehmungen und Gefühle der ProtagonistInnen
werden unmittelbar wiedergegeben. Auch tritt die
auktoriale Erzählinstanz zugunsten der direkten
Rede stark zurück, wodurch es in der Erzählung
den Protagonistlinnen überlassen wird, Ausei¬
nandersetzungen um Kunst, Religiosität oder
auch die Legitimität revolutionärer Gewalt zu
führen. Rot und Weiß wird so von einem Figure¬
nensemble bevölkert, das keineswegs so zweifarbig
ist, wie der Titel nahelegt. Herren und Sklaven
ist demgegenüber stilistisch cher inkonsistent.
Schilderungen im Reportage-Stil werden von
expressionistischen Einschüben unterbrochen,
die auktoriale Erzählinstanz kommentiert sehr
viel ausführlicher.

In beiden Texten nimmt Lekai/Lassen Themen
auf, die in der (deutschsprachigen) zeitgenössi¬
schen Literatur nur wenig Beachtung fanden.
In Rot und Weiß wird eindrücklich von den Fol¬
terpraktiken der Weißen Truppen erzählt. Es
werden zudem die Lebensumstände ungarischer
EmigrantInnen in Wien geschildert, aber auch
ein Blick in Wiener Gefängnisse geworfen. In¬
haftiert wird in der Erzählung der Revolutionär
Wilhelm Kisper, der ein falsches Geständnis für
einen Mord ablegt, um einen Genossen vor der
Festnahme zu schützen. In Herren und Skla¬
ven werden ausführlich die Praktiken und die
Ideologie des Ku Klux Klans dargestellt. Mr.

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