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Leonie Lindinger

Meine Überschwemmung
Taifun („Leonie“)

Es hat mir alles aus der Brust geschwemmt.
Meine Ufer sind gebrochen.

Kein Staudamm mehr.

Kein Warten. Nicht mehr im Obstgarten sitzen und warten,
dass die Zwetschgen reif sind.

Nicht mehr ernten.

Marmelade kochen.

Abwarten?
Nein.

Jetzt.

Raus, raus, raus.
Schrie es aus mir.

Wohin?

Ich trage einen Fluss in mir.
Regentropfen klopfen,
fallen auf den Fluss.

Ich sammle die Tropfen
alle in meinem Bauch.

Hochwasser.

Alles wird eingenommen

Von den Fluten. Schlamm, Steine.
Braun, undurchsichtig.

Wohin nur mit all dem Wasser?
Wer braucht Wasser,

mein Wasser?

Inzwischen ist es Herbst geworden.
Grauer Himmel, seit Tagen
Regen.

Endlich, endlich
Kann auch ich
regnen.

All die Tropfen
Die dunklen, schweren, die zerbrechlichen,
Die Schönen ¬

ich schüttle sie von mir
Wie ein Baum im Herbst seine Blätter.
Weg von mir.

Was bleibt?
Ein kahler Baum,
nackte Äste,

30 ZWISCHENWELT

bin ich nun leicht zu durchblicken,

schutzlos

Wie ein Obstgarten im Winter.

Sieht man nun all die ungepflegten, wilden, rauen,
Puren

Risse

Alles was bleibt
bin

Ich

Leonie Mirjam Lindinger, geb. 2000 in Richterswil bei Zürich,
aufgewachsen in Salzburg. Besuchte die Rudolf Steiner Schule und
verbrachte als 17-Jährige im Zuge eines Schüleraustausches ein halbes
Jahr auf den Philippinen. 2. Platz beim U20 Poetry Slam des Salz¬
burger Literaturhauses (2019). Seit dem 8. Lebensjahr begeisterte
Cellistin, studiert derzeit am Mozarteum Bildende Künste und
Gestaltung, sowie Russisch auf Lehramt an der Universität Salzburg.

Lara Marie Schabauer
Was heute von gestern bleibt

Der Zweite Weltkrieg fand für mich im Geschichtsunterricht
statt. Ich erlebte ihn in Dokumentationen, in Erzählungen mei¬
ner Großeltern und in der Tötungsanstalt Hartheim, die unsere
Schulklasse einmal besuchte.

Vom Krieg spricht die Geschichtslehrerin in Zahlen und Daten.
Von Dann-bis-Dann, Die-gegen-Die, Millionen Tote hier, Hun¬
derttausende Tote da. Vom Krieg und seinen Folgen sprechen
meine Großeltern in Erinnerungen an ihre Kindheit.

Meine Kindheit war völlig anders. Aufwachen in Frieden, ein¬
schlafen in Frieden. Zwanzig Jahre lang nahezu uneingeschränkte
Freiheiten. Eine Schule im Ausland besuchen? Gar kein Problem.
Freunde hinter der Grenze haben, dort die große Liebe finden
— warum nicht? Hinter der Grenze liegt meine zweite Heimat.
Wie fragil diese Sicherheit ist, wurde mir erst im vergangenen
Jahr von einem Tag auf den anderen bewusst. Gedanken an das
Früher von gestern und das Früher vor Jahrzehnten tauchten auf.
Wie war es wohl damals, als es noch üblich war an den Grenzen
kontrolliert zu werden? Als Unsicherheiten und Angst zum Alltag
gehörten. Wie fühlt es sich an, sich auch das siebte Mal in einer
Woche über Kartoffeln zu Mittag zu freuen?

Lebt man so privilegiert wie meine Generation, scheint diese Zeit
weit entfernt. Das eigene Leben ist noch so kurz — vergangene 80
Jahre wirken wie eine kleine Ewigkeit. Die Folgen des zweiten
Weltkrieges bemerken wir heute nicht mehr an zerstörten Häusern
oder Leben. Vielmehr machen sie sich auf subtile Art und Weise
in den Eigenarten der Menschen bemerkbar.

Der Grofvater, der immer zumindest doppelt so viele Lebensmittel
wie nötig kauft oder die Eltern, die die Vorstellung vom „Zu-lan¬
ge-Studieren“ in Unruhe versetzt. Die Frau von nebenan, die ihr
Lebtag lang keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen, sondern vom
Einkommen ihrer Ehemänner lebte, wird von meinen Großeltern
mit kritischem Unterton besprochen. Stört sie das Kollektiv der