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Heißigen, emanzipierten Frauen, zu denen sich meine Großmutter
schon früh zählte, oder scheint ihr leicht erreichter Wohlstand
beneidenswert? Der eigene Weg, vom Kind, mit dem man lieber
nicht spielen sollte, bis zum respektierten Gemeindemitglied,
wurde schließlich durch harte Arbeit geebnet.

Nachdem die Familien meiner Großeltern 1944 aus Siebenbürgen
und dem Banat nach Österreich geflohen waren, standen sie vor
dem Nichts. Meine Großeltern wurden beide in diese ärmlichen
Verhältnisse hineingeboren und begannen bereits in jungen Jah¬
ren zu arbeiten. Ihr weiteres Leben sollte, wie das vieler Vertreter
ihrer Generation, unter dem Leitgedanken „Die Kinder sollen
es einmal besser haben“ stehen. Der steinige Weg des Wieder¬
aufbaus nach dem Krieg erforderte eine Arbeitsmentalität, die
sich nach und nach zu einem Immer mehr, immer weiter, immer
besser entwickelte. Doch: wohin?

Zwei Generationen später habe ich weit mehr als ein Mensch
zum Leben braucht. Ich wurde fast an der Spitze der Maslow¬
schen Bedürfnispyramide geboren. Meine Grundbedürfnisse
waren zu jeder Zeit gedeckt, ich fühlte mich sicher, geliebt und
erhielt Anerkennung für meine Talente. Mit zwanzig Jahren bin
ich nach meiner Tante die erste der Familie, die studiert. Ohne
Akademikerhintergrund, gehöre ich zu den 22 Prozent der Ar¬
beiterkinder, die als Ausnahmen die Regel der Bildungsvererbung
bestätigen, und habe das Privileg mich bereits in jungen Jahren
meiner Persönlichkeitsentwicklung widmen zu können. Doch
der steigende Wohlstand birgt seine eigenen Konflikte.

Als junge Erwachsene stehen viele von uns heute vor einem Meer
an Möglichkeiten, in dem der Verstand zu ertrinken droht. So
viele Entscheidungen müssen getroffen werden - ein Privileg und
eine Belastung zugleich. Wird meine Wahl richtig ausfallen oder
werde ich sie im Nachhinein bereuen? Welche Option bringt die
meisten Vorteile mit sich? Welche Erwartungen hat mein soziales
Umfeld an mich? Wofür auch immer man sich entscheidet, so¬
bald das erste Ziel erreicht ist, fragt man sich: Wie geht es noch
weiter aufwärts?

Obwohl wir bereits an der Spitze angelangt sind, glauben wir
den Berg noch weiter hinaufklettern zu können. Wir schmü¬
cken den Gipfel mit Lichterketten, kaufen eine noch schönere
Aussichtsbank, schen nicht genug, bauen einen Aussichtsturm
darauf. Wir kaufen ein buntes Fernglas mit Diamantverzierung,
in der Hoffnung noch weiter zu schen, und vergessen dabei was
direkt um uns herum ist. Wir schen in der Ferne wie glücklich
andere zu sein scheinen, vergleichen uns selbst mit ihnen, haben
das Gefühl niemals gut genug sein zu können. Das Streben nach
Perfektion stellt uns vor eine Sisyphusaufgabe, unerreichbar und
doch das Einzige, was noch erreicht werden könnte. Wir haben
Angst zu verlieren, was wir schon immer hatten, sind uns der
Chancen bewusst, die zuvor niemand hatte, spüren den Druck
sie zu nutzen, „alles im Leben mitzunehmen, was geht“.
Bewirbt man sich heute bei einem Unternehmen, wird oft genau
das erwartet: Am besten man hätte zusätzlich zu einem Hoch¬
schulabschluss bereits einige Monate im Ausland verbracht,
mindestens drei Jahre Berufserfahrung, eine Zusatzausbildung
plus eine interessante, innovative Persönlichkeit und das Wort
„Flexibilität“ wäre der zweite Vorname. Während wir versuchen
all diesen Vorstellungen gerecht zu werden, verlieren wir nicht
selten das Gefühl für uns selbst. Fragen, die sich schon die alten
Philosophen stellten, tauchen wie Schlaglichter auf: Warum bin
ich hier? Was ist der Sinn hinter all dem? Womit habe ich dieses

Glück verdient, während andere, sogar hierzulande, es so viel
schwerer haben? Doch so plötzlich wie sie erscheinen, werden sie
von der täglichen Masse an Informationen, die uns über soziale
Netzwerke erreichen, überschwemmt.

Über soziale Medien wird eine utopische Lebensrealität vermittelt,
die dazu verleitet am eigenen Glück zu zweifeln. Man möchte ein
Leben führen, das so viele schöne, glückliche Momente beinhal¬
tet, wie das die Bilder und Videos vieler anderer suggerieren. Im
krassen Gegensatz dazu erreichen uns täglich Bilder von Trauer,
Terror und Tragik. Es scheint, als müsse man all das Leid der Welt
ertragen, immer und immer wieder in einer endlosen Schleife.
Hinzu kommt die Konfrontation mit dem Hass und der Gewalt
vergangener Jahrzehnte. Welches Gewicht müssen unsere Schul¬
tern tragen? Sind wir verantwortlich für das unbeschreibliche
Leid, das Menschen in der Vergangenheit zugefügt wurde?
Nein, niemand ist verantwortlich für Taten, die begangen wurden,
bevor man überhaupt geboren wurde. Trotzdem fühlt es sich oft so
an. Vor allem die deutschen Nachfolgegenerationen spüren noch
die Bürde, für die sie persönlich nichts weiter geleistet haben, als
in diesem Land geboren zu werden. Unsere Generation wuchs
mit dem Bewusstsein auf, wie verschieden die Wahrnehmung
anderer Länder gegenüber deutschen und österreichischen Staats¬
bürgern ist. Meine Professorin berichtete beispielsweise, sie sei im
Zug von einer Mitreisenden in deren Muttersprache beschimpft
worden. Als Grund reichte allein deren Annahme, die Professorin
sei Deutsche. Als sie sich jedoch als Österreicherin zu erkennen
gab, verflog die Missgunst ihrer Kritikerin in Sekundenschnelle.
Die Schuld von damals sollte nicht heutigen Generation aufge¬
bürdet werden. Wofür wir verantwortlich sind, ist, ob wir Aus¬
grenzung, Hass und Gewalt zu unseren Lebzeiten einen Raum
geben. Ob sich unsere Werte soweit verändert haben, dass ein
Miteinander, ein Diskurs und Verständnis füreinander einen so
hohen Stellenwert erreicht haben, dass sie etwaige Differenzen
und Meinungsverschiedenheiten übertrumpfen.

Ist der vergangene Krieg heute also in Vergessenheit geraten?
Nein. Seine vielschichtigen Folgen spüren wir noch heute.
Doch die Erinnerungen verblassen.

Was uns damit verbindet, sind Erzählungen von Familienmit¬
gliedern. Geschichten von Menschen, die diese Zeit selbst er¬
leben mussten. Das kann kein Lehrbuch der Welt und keine
Dokumentation aufwiegen. Einzig persönliche Besuche an Or¬
ten des Grauens können einen ähnlichen Effekt hervorrufen,
da sie emotionale Erinnerungen erzeugen und sich damit fest
im Gedächtnis verankern. Meine Generation ist die letzte, die
noch die Möglichkeit hat mit Zeitzeugen zu sprechen. In diesem
Bewusstsein fühle ich mich geehrt, die Geschichten, Gedanken
und Erfahrungen meiner Familie weitertragen zu dürfen, in der
Hoffnung auf eine verständnisvollere, friedliche Zukunft.

Lara Marie Schabauer, geb. 2000 in Salzburg, maturierte 2020
in ihrer Geburtsstadt an der HLWM mit Schwerpunkt auf Kom¬
munikation und Mediendesign und studiert seit 2020 Soziologie an
der Universität Wien. Die Leidenschaft für das Schreiben begleitet
sie seit ihrer Kindheit. 2019 erreichte sie das Finale des Literatur¬
wettbewerbs des Vereins der Literarischen Bühnen Wien.

Juni 2021 31