völlig verklebte Brille sorgfältig gereinigt hatte. Aber niemand
behauptet, dass generationsübergreifendes Familienleben einfach
ist. Für Herd und Eiskasten standen große blaue Gasflaschen in
der Küche. Auch das abendliche Licht auf der offenen Terrasse
kam von einer Gasglühlampe, wie die Fischer sie verwendeten,
um nachts ihre Beute anzulocken. Magisch zog das grelle Licht
unzählige Insekten an und wir verbrachten ganze Abende damit,
die Geckos bei der Jagd zu beobachten: wie sie sich langsam an¬
pirschten und dann blitzschnell zustießen. Manchmal fielen Jäger
und Beute zu Boden und wälzten sich in wildem Todeskampf. Es
gab damals auch im gegenüber liegenden Hafen Katapola so gut
wie kein Straßenlicht, dafür konnte man bei Vollmond seinen
eigenen Schatten und jeden noch so kleinen Stein auf der Straße
bewundern. Ein unübersehbares und heute kaum vorstellbares,
weil unsichtbar gewordenes Sternenmeer überschwemmte uns
bei Neumond.
Da es nur ein Postamt in der Chora gab, holten wir unsere
Briefe im Kafenion von Nikolas Prekas, der uns all die Jahre
ein Freund und Beschützer war. Mitunter waren es im Vorjahr
abgeschickte Briefe, weil aufden Inseln dauert alles ein bisschen
länger. Reisenden wurden Briefe mitgegeben, weil sie in Athen
aufgegeben mindestens einen Monat früher ankamen. Es gab
sogar ein öffentliches Telefon im Ort, dort saß eine steinalte,
würdige Dame in der Schusterei hinter einem Kasten mit vielen
Kabeln und Steckverbindungen, der wohl noch aus dem Zwei¬
ten Weltkrieg übrig geblieben war. Aus dieser Zeit stammten
auch die zwei entschärften Mienen, die bunt bemalt die Mole
schmückten. Legendär war das Schiff „Miaoulis“, ein kleiner
Passagierdampfer aus den 1940er Jahren, der als Reparationszah¬
lung der Italiener nach dem Krieg seinen Weg in die Gewässer
der Ägäis gefunden hatte. Das Schiff hatte immer stundenlange
Verspätung und der Kapitän einen Vater aus Afrika, was man
ihm ansah. Dennoch brachte er es zum renommiertesten Beruf
in Griechenland. Nur in Katapola sang er immer beim Ablegen
des Schiffes über sein schepperndes Bordmikro ein Lied — und
der ganze Hafen applaudierte. Unvergessen auch der Jubel, als
wir Kinder mit unseren bunten Badetüchern ihm und seinem
Schiff von der Terrasse aus Lebewohl winkten und er mit sei¬
nem Signalhorn mehrmals antwortete. Heute kommen nur noch
Fährschiffe, die möglichst rasch Autos, Menschen und Waren
aus- und einladen. Zu bewundern sind dabei die Chauffeure,
die blitzartig einen LKW mit Anhänger in den engen Schlund
der Fähre einführen. Damals wurden die wenigen Autos noch
mit einem Kran hoch über die Reling gehoben und mehr oder
weniger sanft hinab auf den Kai hinunter gelassen.
Lorenz war ein ebenso leidenschaftlicher wie hinreißender
Koch, nur war das Warenangebot auf der Insel kaum vorhanden.
Die Einheimischen lebten annähernd autark und hatten nichts
zu verkaufen. Bei den zwei Greißlern gab es Kondensmilch- und
Fleischdosen wie im Krieg. Einmal in der Woche brachte das
Schiff Joghurt aus Naxos — was für ein Fest das immer war! Nur
beim Gärtner Markos Exarchopoulos erstanden wir überirdisch
duftende Tomaten und reife Zitronen, die schon beim Anritzen
einen Duft versprühten, der jedes Parfum in den Schatten stellte.
Manchmal gab es sogar Ziegenmilch, frisch und warm aus dem
Euter in eine Flasche gezapft. Daher kam Lorenz immer mit vier
Kühltaschen und zehn Plastiksackeln gefüllt mit Delikatessen
aus Athen nach Katapola. Diese mussten schnellstens in die
Tiefkühltruhe gebracht werden, die mit Petroleum betrieben
wurde. Jedoch hatte die Firma anfangs das falsche Modell mit
Elektroanschluss geliefert und es hatte meinen Vater einen dicken
Ordner an reklamierenden Briefen gekostet, bis letztendlich zur
Reparatur ein Techniker aus Schweden nach Amorgos geschickt
wurde. Wie auch immer, abends gab es oft siebengängige Menüs:
Senfeier mit Kapern, Paprika gefüllt mit einer Pinienkernmi¬
schung oder auch mit Thunfischpaste, Forelle mit Oberskren,
und das waren nur die Vorspeisen, es folgten Pörkölt mit Ma¬
maliga oder Mussaka mit dicker Bechamelsoße, immer wieder
auch Turoschtschussa - griechische und ungarische Küche wild
gemischt. Nur die Sachertorte wollte ihm nicht gelingen, da
spielte die primitive Technik des Backrohrs nicht mit. Das Pro¬
jekt eines internationalen Kochbuchs seiner Lieblingsspeisen hat
Lorenz leider nicht vollendet. Nach dem Essen wurde meist die
Speisenfolge für den nächsten Tag besprochen. Danach gab es
endlose politische Debatten, die sehr intensiv und laut werden
konnten. Oft wurde betont, dass dies in Griechenland so üblich
sei und dass auch Kinder dem Gespräch selbstverständlich bei¬
wohnen und ihre Meinung äußern dürfen. Irgendwann gingen
diese dann doch schlafen und Lorenz arbeitete bis in die frühen
Morgenstunden mit Hilfe von Whiskey und Zigaretten an sei¬
nen Übersetzungen. Wurde er morgens durch unser Geschrei
geweckt, so war dies ein großes Sakrileg. Jeden Morgen erhitzte
er Wasser in zwei riesigen Töpfen am Gasherd, um seine kleine
Sitzbadewanne zu befüllen. Davor und danach war er im dun¬
kelblauen Schlafrock aus Seide unterwegs. Zwar ging er auch ins
Meer schwimmen, aber die neuartige FKK-Kultur war ihm ein
Dorn im Auge. Da konnte er sich maßlos über die Torheiten der
Hippie-Jugend (auch „Schaumstoff-Jugend“ genannt) alterieren,
die ihm im Vergleich zu seiner Generation dekadent und unreif
vorkam. Einmal herrschte er mich im Zuge einer Tirade an: „Was
haben Du und Deine Generation für die Revolution getan?“ Ich
war damals erst 15 Jahre alt und verstand seine Frage, doch ihr
Inhalt erschien mir als Verkennung der Wirklichkeit. Daher
lautete meine Gegenfrage: „Welche Revolution?“ Damit war das
Thema für längere Zeit beendet.
Lorenz von Gyömörey (eig. Laurentius Maria Anton Georg Otto
Constantin Maximilian Gyömörey) wurde am 22. Jänner 1931
um 14:30 Uhr in Graz geboren und starb am 24. Dezember 1989
im Athener Außenbezirk Chalandri. Sein Vater war Anton (An¬
tal) Gyömörey von Györ-Gyömöre und Teölvär, Gutsbesitzer in
Meszö-Keresztes und damit grundbesitzender Uradel im Komitat
Zala. Geboren wurde er am 1. Mai 1881 in Mährisch-Weißkir¬
chen, verstorben am 21. August 1968. Als Major bei den Husaren
bekannte er sich lebenslang als Monarchistzum Haus Habsburg,
deswegen war er auch ein Gegner des NS-Regimes. Er beteiligte
sich 1920 aktiv beim Restaurationsversuch Kaiser Karls I. in
Ungarn. Daher fungierte Kaiserin Zita auch als Taufpatin von
Lorenz Gyömöreys gleichnamiger Schwester. Anton Gyömörey
war für seinen harten Charakter bekannt, seine Enkelkinder ließ
er noch seine Hand küssen und seinen Lebensabend verbrachte
er im Grazer Grand Hotel Wiesler, womit er letztendlich auch
das Vermögen der Familie durchbrachte. Die Eheschließung war
am 14. April 1921 in Graz erfolgt. Lorenz‘ Mutter war Georgine
Adalberta Helene Eduarda von Gyömörey und Teölvär, geboren