Am liebsten erinnere ich mich an den Gesang meiner Gro߬
mutter. Sie war eine echte Naturbegabung. Mühelos, ohne die
geringste Anstrengung, strömte ihre wunderbare Stimme durch
die kühnsten Passagen der gesamten italienischen Opernliteratur.
Sie konnte stundenlang italienische Opernarien singen, auch
griechische, türkische und armenische Volkslieder, wie sie in
ihrer Heimat gesungen wurden.
Im Jahre 1900 wurde sie in Erzerum in der Türkei geboren, in
eine Familie pontischer Griechen. (So nennt man die Griechen
vom Schwarzen Meer.) Ihr Vater Konstantinos Triantafilidis
war ein wohlhabender Kaufmann, der von Konstantinopel nach
Erzerum gezogen war, in der Hoffnung dort in der Provinz dem
wachsenden Druck auf die griechische Minderheit weniger ausge¬
setzt zu sein. Jedenfalls scheint er sich dort rasch etabliert zu haben.
Unter den vielen Griechen, die dort lebten, gab es einen Herrn
Ioannidis, der Selbstmord begangen hatte und eine 24-jährige
Witwe mit drei Kindern hinterließ. Beim Begräbnis des Herrn
Ioannidis sagte mein Urgroßvater zu der verzweifelten Witwe:
„Weine nicht, weine nicht junge Frau, Gott hat eine Vorschung‘“.
Diese Vorsehung war er dann selber, denn bald hat er diese junge
Witwe mit ihren drei Kindern geheiratet. Und er soll diese drei
Kinder mehr geliebt haben als später seine eigenen vier, die bald
dazukamen, darunter meine Großmutter Eleni. So erzählten es
jedenfalls meine Tanten.
Sie lebten gut in Erzerum. Großmutter wurde regelmäßig in
die Oper gefahren und lernte Französisch. Ihre beiden Brüder
Miltiades und Christos wurden zum Studieren nach Paris ge¬
schickt . Das bedeutete damals eine mehrwöchige Fahrt mit der
Kutsche, wie mir Onkel Miltiades einmal erzählte. Er selber habe
eifrig studiert, während sein lebenslustiger Bruder Christos das
ganze Geld mit Frauen durchgebracht hat. Jedenfalls hat dieser
Onkel Christos (eigentlich war es ja mein Großonkel) fast so
schön gesungen wie meine Großmutter und Geld war für ihn nur
zum Ausgeben da, so ist er leider auch total verarmt gestorben.
Er war stets gut gelaunt und hat immer ein Lied auf den Lippen
gehabt-bis zuletzt.
Erzerum in Östanatolien ist eine ehemals armenische Stadt.
Es begann ab 1915 die verheerende Zeit des Genozides an der
armenischen Bevölkerung. Großmutter erzählte mir, daß sie und
ihre Schwestern damals das Haus nicht mehr verlassen durften
und daß sie einmal bei einer Ausfahrt mit der Kutsche einen Fluß
(an den Namen erinnere ich mich nicht mehr) entlang gefahren
sind und der Fluß war bedeckt mit den Leichen der Armenier.
Mitten in den Schrecken dieser Zeit musste meine Großmutter
verheiratet werden. Sie war fast 20 Jahre alt und für die damali¬
gen Verhältnisse sollte sie schon längst verheiratet sein. Ihr Vater
hatte ihr fünf standesgemäße Kandidaten vorgestellt und sie
durfte wählen. Auf meine Frage, warum sie sich für Großvater
entschieden hätte, meinte sie nur, er wäre zwar der „Ärmste“ von
allen gewesen, aber er war der Schönste von allen.
Ja, Schönheit war für meine Großmutter zeitlebens ungemein
wichtig gewesen, in allen Belangen. Dabei hatte sie einen durchaus
differenzierten Begriff von Schönheit. Zu unserer Belehrung und
damit wir wohl auch begriffen, worauf es ankommt, hat sie gerne
eine Geschichte erzählt, die sie bei Plutarch gelesen hatte. Er
schreibt von einem spartanischen König, der verkrüppelt und schr
häßlich war. Normalerweise haben die Spartaner solche Kinder
nicht am Leben gelassen, aber weil er der Sohn des Königs war,
durfte er weiterleben und wurde dann selber König. Wenn nun
die griechischen Könige und Prinzen sich versammelten (und
die waren per definitionem sehr schön) wurde viel geredet und
viel gestritten. Wenn aber jener verkrüppelte Spartanerkönig sein
Wort erhob, sind plötzlich alle verstummt und dann war er der
Schönste von allen. So schreibt Plutarch und nennt dieses Beson¬
dere jenes verkrüppelten Spartanerkönigs den „erasmion“-etwas,
das aus dem Inneren des Menschen herausströmt. Ein schwer
zu übersetzendes Wort. Man könnte es Charisma nennen oder
Ausstrahlung oder eine Art geistiger Atmosphäre. Jedenfalls, so
erläuterte es meine Großmutter, kann man diesen „erasmion“
nicht erwerben-man hat ihn oder man hat ihn nicht.
Nach ihrer Verlobung 1920 wurde sie von meinem Großvater
mit einer Kutsche abgeholt und sie fuhren zu ihrer Hochzeit
nach Batumi an der georgischen Schwarzmeerküste, wo mein
Großvater bereits seit drei Jahren lebte. Unterwegs ließ er bei
mehreren der verwüsteten armenischen Kirchen anhalten, um
dort ein Gebet zu sprechen. Er war ein tief religiöser Mensch.
Am Boden zwischen Schutt und Asche fand er ein zertretenes
armenisches Kreuz, hat es mitgenommen und aufbewahrt. Ein
fein ziseliertes Metallkreuz mit einem Christus darauf, der schon
fast heruntergebrochen war. Viele Jahre später nach seiner Inhaf
tierung und Deportation in ein sibirisches Straflager ist meine
Großmutter mit den vier Kindern nach Griechenland geflüchtet
und hat dieses armenische Kreuz mitgenommen. Sie konnte fast
nichts mitnehmen und sie alle mussten froh sein, noch lebend