Wenige Jahre später starb auch unser geliebter Onkel Thomas.
Für Tante Fifi war das fast nicht zu verkraften. Bei der Ordnung
seines bescheidenen Nachlaßes sind wir auf zahllose Gedichte
gestoßen, die er über die Jahrzehnte geschrieben hat und von deren
Existenz niemand eine Ahnung hatte. Seit jenen Jugendtagen,
als er dafür verspottet wurde, hat er also weiter seine Gedichte
geschrieben und niemand wußte davon.
Ein halbes Jahr später ist auch mein Vater in Wien gestorben.
Von den vier Kindern meiner Großmutter lebt nur mehr die
Jüngste, meine Tante Fifi. Wer sie heute besucht, wird eine äußerst
kraftvolle ältere Dame antreffen, mit recht originellen Ansich¬
ten, nicht besonders höflich, aber sehr charmant und immer
authentisch. Ihre große Lebenspassion ist die Malerei geblieben.
Weitgehend autodidaktisch hat sie einen ganz eigenständigen
Stil entwickelt, den man im weitesten Sinn als naive Malerei
bezeichnen könnte. Wie der geneigte Leser schon verstanden
haben dürfte, liebe ich meine Tante und ich liebe ihre einzig¬
artigen Bilder.
Vor wenigen Jahren war sie noch einmal in Wien und hat mir
jenes armenische Kreuz mitgebracht, welches mein Großvater
dereinst in einer zerstörten armenischen Kirche gefunden hatte.
Ich habe es lange aufbewahrt, konnte es mir aber nicht an die
Wand hängen. Es liegt so viel Schmerz in diesem zertretenen
Kreuz. Vor Kurzem habe ich es einer armenischen Familie ge¬
schenkt, die von Syrien aus nach Wien geflüchtet war. Der alte
Vater soll geweint haben.
Zuletzt hat dieses Kreuz, nach einer langen Odyssee von Er¬
zerum über Batumi nach Athen, doch noch in Wien seinen Platz
in der Welt gefunden.
Alles, was ich hier berichtet habe, was einst lebendiges Leben
war, ist nun zu Geschichte geworden. Und eines Tages werden
auch wir Geschichte sein. Aber bis dahin, liebe Leute, lebt euer
Leben, so intensiv ihr nur könnt.
Helene Avramidis wurde 1952 in Wien geboren. Sie studierte
an der Universität für Angewandte Kunst bei Prof. Tasquil und
Maria Bilger. Von 1999 bis 2014 leitete sie Abteilung für Keramik
und Produkigestaltung an der Wiener Kunstschule. Ausstellungen
u.a. in Italien, Japan, Deutschland. Vertreten in den Sammlungen
MAK/ Wien, Collection Y. Mitsui (Hiroshima), Sammlung Adolf
Egner (Koln), Keramikmuseum Frechen (BRD), Sammlung der
Universitat fiir Angewandte Kunst, Wien.
Der Wiener Schriftsteller Richard Schuberth hat mit „Lord Byrons
letzte Fahrt“ nun eine große neue deutschsprachige Monografie zum
Griechischen Unabhängigkeitskrieg 1821-29 vorgelegt. Wir ha¬
ben uns bei unserer Auswahl für zwei Kapitel aus dem ersten Teil
entschieden, die die historischen und kulturellen Rahmenbedin¬
gungen dieses Konflikts durchleuchten, welche für das Verständnis
seiner anarchischen Verläufe unabdingbar sind. Als drittes Kapitel
ein Kurzporträt des wohl modernsten Akteurs dieses nicht nur für
Griechenland, den Balkan und den Vorderen Orient bedeutsamen
Kapitels der Geschichte, des Politikers Alexandros Mavrokordatos.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der dialektische Antiheld Teil
einer Internationale des Exils und prägte den Kreis um Percy und
Mary Shelly in Pisa. Wäre es nach ihm gegangen, hätte Griechen¬
land schon ab 1821 eine republikanische Verfassung haben können.
„Neben uns steht eine Gruppe von Griechen, jene bewundernswerten
und furchtbaren Saloniki-Juden, zäh, diebisch, weise, wild und
solidarisch, so entschlossen zu leben und so unerbittlich als Gegner
im Kampfums Leben; jene Griechen, die in den Küchen und aufden
Baustellen tonangebend sind, die sogar von den Deutschen respektiert
und von den Polen gefürchtet werden. Sie sind schon das dritte Jahr
im Lager. Jetzt stehen sie Schulter an Schulter dicht gedrängt im
Kreis und singen eine ihrer endlosen Kantilenen.“
Primo Levi, „Ist das ein Mensch?“
Menschen jüdischen Glaubens lebten schon lange im heutigen
Griechenland, bevor der Überlieferung zufolge im Jahre 70 n.
Chr. nach der Zerstörung des Tempels von Jerusalem die Dias¬
pora eingesetzt habe. Selbst bei einer im Vergleich zu anderen
Richard Schuberth
Lord Byrons letzte Fahrt. Eine Geschichte des Griechischen
Unabhängigkeitskrieges © Wallstein Verlag, Göttingen 2021
ethnischen Gruppen relativ exklusiven wie den Juden galt für
sie, was für viele andere Sprach- und Kulturgruppen der Region
galt: Sie lebten zerstreut im gesamten ostmediterranen Raum. Wie
Griechen, Armenier, christliche Syrer und andere. Diese Welt war
ein buntes Mosaik von Communitys mit bestenfalls territorialer
Verdichtung in den Regionen, die als ihre Herkunftsorte gelten.
Die Vorfahren vieler jüdischer Menschen mochten aus Judäa oder
Galiläa gekommen sein. So etwa die romaniotischen Juden, welche