gelesen hat (Teil I) - um das “Netz der Be¬
ziehungen” geht (Teile II-V). Das Bild von
Annette Kolb, deren Israel-Reise Benyoétz
mitorganisiert und begleitet hat, gewinnt
an Prägnanz. Seine Einschätzungen so
unterschiedlicher Literaten und Gelehrter
wie Ludwig Strauß, Max Rychner, Werner
Kraft, Marcel Reich-Ranicki, H.G. Adler,
Peter Handke oder Ludwig Hohl sind al¬
lemal nachdenkenswert, wie vertrackt-dia¬
lektisch sie manchmal auch daherkommen
— über den Schweizer Schriftsteller und
Theologen Kurt Marti äußert sich Benyoétz
in einem Brief an Hans-Jürg Stefan vom 14.
Dezember 2015 so: “Du weißt, dass ich ihn
schätze und nun auch liebe, ich bin ziem¬
lich blind für ihn, aber ich bin nicht blind
gegen seine Schwächen, auch in den ‘Noti¬
zen’ gibt es Entbehrliches, das ‘man’ nicht
gern entbehrte, weil dies sein Charme ist:
sich möglichst viel vorzunehmen und nicht
nachzulassen”. Beeindruckend ist die immer
wieder auf neue Art und Weise lebendige
Auseinandersetzung mit Georg Christoph
Lichtenberg, Annette von Droste-Hülshoff,
Conrad Ferdinand Meyer, Karl Kraus, Else
Lasker-Schüler, Elias Canetti und ande¬
ren Großen der deutschsprachigen Litera¬
tur. Immer wieder Edelsteine aus Sprache:
“Gottfried Benn ist ein Stein des Anstoßes,
kein Stolperstein der Poesie”. Immer wieder
auch differenzierte und zugleich klare Ur¬
teile, zum Beispiel über den Germanisten
und Schriftsteller Ernst Bertram: “Er hat¬
te etwas zu sagen, immer auf einer Leiter
stehend, hochgreifend, während seine See¬
le sümpfelte. Er war von Rang und hatte
kein Niveau — wie so viele Nazigelehrte aus
Kaiserzeiten”. Viele heute fast vergessene
Künstlernamen tauchen auf — die Belesen¬
heit des Autors scheint unendlich zu sein.
Wenn ich des Granens voll, den Himmel suche,
Ist er durch Eisenstäbe so entstellt,
Daß ich mich wende und den Sternen fluche,
Denn ach, sie leuchten!-und mir starb die Welt.
aus: “Gefangen”
Die 1896 in Breslau als Tochter des Psych¬
iaters und Neurologen Heinrich Sachs und
der einem angesehenen Kaufmannshaus
entstammenden Luise Graeupner geborene
Lessie Sachs lebte in München das Leben
einer politisch uninteressierten Malerin im
Kreise der Boheme, als im November 1918
die Revolution ausbrach. Mitgerissen von
der Erhebung der ArbeiterInnenklasse, den
Demonstrationen und Debatten politisier¬
te sie sich zunehmend und trat im Februar
1919 der Kommunistischen Partei Deutsch¬
lands bei. Als einzige Frau war sie auch Mit¬
glied des “Aktionsauschuß revolutionärer
Künstler”, der sich für eine Neugestaltung
des Kulturlebens, der finanziellen Absiche¬
rung von KünstlerInnen, interdisziplinäre
Arbeitsformen u.v.m. einsetzte. Nach der
blutigen Niederschlagung der Rätedemo¬
kratie wurde sie aufgrund ihrer Tätigkeit in
der Propaganda-Abteilung der KPD ver¬
haftet und zu über einem Jahr Gefängnis
Niemals steht die Person im Mittelpunkt,
immer ist es das dichterische Kunstwerk,
die dichterische Sprache — “eine zu genaue
Kenntnis der Biographie ist immer eine
schlimme Voraussetzung zur literarischen
Würdigung”. Welchem Kosmos des Geis¬
tes Elazar Benyoétz verpflichtet ist und aus
welchen Quellen er schöpft, gerät niemals
aus den Augen — manchmal evoziert ein
einziger Satz längst versunkene, von der
Mordmaschinerie des 20. Jahrhunderts ra¬
dikal ausgelöschte Geisteswelten: “Ich war
keinem jüdischen Intellektuellen begegnet,
dem Jean Paul nicht von Kindheit an ver¬
traut und also geliebt war”.
Der zweite große Textblock (Teile VI-X)
versammelt Briefe, die sich in engerem Sin¬
ne auf das poetische Werk und das Selbst¬
verständnis des Dichters beziehen. “Der
Leser muss aus meinen Büchern sein Bestes
machen, mein Bestes machte ich schon”,
heißt es in einem Brief an den Freiburger
Romanisten Hans-Martin Gauger vom 24.
Januar 2008 (181). Im Briefwechsel mit
Gauger erörtert Benyoetz auch die Situation
der deutschen Sprache nach dem Holocaust:
“Nimmt man’s aber genau, dann war es die
deutsche Sprache, die den Krieg, nein — den
Sieg für immer verloren hat. Ich weiß nicht,
wie groß ihre Aussichten waren, Weltspra¬
che zu werden, aber sie war eine ehrliche
Kandidatin, und gerade die Juden, mit,
durch, aus ihrem Jiddisch und sonstigen
Sympathien hätten ihr dazu gern verholfen.
Jetzt schreiben die Germanisten englisch
und ‘Deutsch als Fremdsprache’ wird nur
schüchtern großgeschrieben ... Man kann
nicht den Menschen, das einzige Sprachorg¬
an, vernichten und die Sprache heil für sich
behalten. Was man an Menschen vernich¬
tet, geht auch als Sprache verloren”. Elazar
in der Strafanstalt Stadelheim verurteilt, aus
der man sie im Frühjahr 1921 entließ. Ihre
Kurzprosa “Ein Buch gibt Antwort” behan¬
delt, neben der großartigen Verarbeitung in
den Gedichten “Du weißt das nicht” und
“Gefangen”, die Erinnerung an die Zeit der
Gefangenschaft auf eindrückliche Weise.
“Die Melancholie eines Novembertags, ich
erinnere mich genau, wollte mich töten.” So
hebt die Erinnerung an. Ausgelöst durch die
stumpfe Trauer eines düstren Wintertags ge¬
denkt sie ihrer Abgetrenntheit von der Welt
in jener Gefängniszelle: “es war auch nicht
November damals, aber selbst die Hellig¬
keit des frühen Jahres hatte nicht vermocht,
dem Auge etwas anderes zu vermitteln, als
das genaue Abbild einer streng umgrenzten
Welt; nur das Ohr fing gierig die Geräusche
auf, die der Wind uns zutrug, Beweis und
Kunde eines uns unerreichbaren Lebens,
das besser war, freier, wirklicher, fröhlicher
als das unsere, das wir besessen und verlo¬
ren hatten, das unbekümmert um uns wei¬
terging, die wir nichts mehr waren, als arme
Gefangene hinter den Mauern. Keiner, der
nicht selbst längere Zeit aus Gründen gleich
welcher Art, seiner persönlichen Freiheit
beraubt war, wird ermessen können, welch’
Benyoétz’ Briefe über sein Verständnis von
Arbeit mit Sprache, über seine Präferenz für
den Aphorismus — “Aphoristik greift an und
weicht zurück, sie ist eine Gattung nicht
unter anderen, sondern zwischen anderen,
sie eignet sich von allem etwas an” — und
über die wichtigsten eigenen Publikationen
geben zahllose intellektuelle Anregungen
und runden das Bild des noch immer wenig
bekannten israelischen Dichters aufschluss¬
reich ab. Ein kurzes, aber wichtiges Kapitel
(Teil IX) gilt dem Stellenwert, den öffentli¬
che Lesungen für Benyoätz haben — “Meine
Lesungen sind Werke für sich”, betont er ge¬
genüber Friedemann Spicker. “Die Lesun¬
gen sind mein wichtigstes Werk, sie wirken
nach; noch wirken sie”.
In seinem luziden Nachwort rechtfertigt
der Herausgeber auch den Titel, den er
seinem wunderbar gelungenen “Porträt
aus Briefen” gegeben hat — der Titel stehe
für “Beziehungs-Weisen” mehrfacher Art,
“zunächst für Benyoätz’ Beziehung zur
Gattung Brief selbst, sodann zur Literatur
in Vergangenheit und Gegenwart sowie zu
ästhetischen, poetologischen und (nicht
zuletzt) religiösen Fragen, schließlich zu
den Partner(inne)n wie auch zum eigenen
Werk”. Beziehungsweisen öffnet Zugänge zu
einem geistigen Kosmos, den kennenzuler¬
nen ein Geschenk ist.
Klaus Hübner
Friedemann Spicker (Flg.) unter Mitarbeit von An¬
gelika Spicker-Wendt: Beziehungsweisen. Elazar
Benyoetz: Ein Porträt ans Briefen. Tübingen: Narr
Francke Attempto Verlag 2019. 381 $., € 78,-.
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eine Fülle von Schmerz, von Erinnerung,
welches Erlebnis die unbedeutenden Ge¬
räusche des täglichen Lebens demjenigen
bringen, der, auf sein Ohr angewiesen, ein¬
zig dadurch die Verbindung mit der wachen,
wirklichen, lebendigen Welt erhält. [...] Wie
hatte dies alles sein können?-Wie waren wir
dahin gekommen, zu solchen Dingen und
an solchen Ort [...] Hatten wir den Weg
verfehlt?-Wir hatten in München Revoluti¬
on gemacht, das war es. [...] Für uns hatte
sich die Macht des Geldes dort manifestiert,
wo sie am eigenen Leibe spürbar war, wir
hatten die soziale Ungerechtigkeit weder
aus Büchern, noch aus Theorien [...] In
einer gewissen Weise lebten wir nach un¬
seren Ideen. Obgleich wir nach außen hin
verschluderten, in jeder Weise unregelmäßig
lebten, fühlten wir uns innerlich sprungbe¬
reit, erregt und angespannt.” Doch dann
schlug die Reaktion die Revolutionäre zu
Boden und Lessie Sachs landete in einer
Zelle, weg- und ausgesperrt vom Leben.
“Die Zeit verstrich, Tag und Nacht verstri¬
chen in gleichmäßiger Folge, die Stille war
undurchdringlich, in diesem Schweigen ver¬
sank für uns lautlos die Welt. [...] ich hörte
Schlüssel klirren, einen Schritt im Gang,