Ein unmögliches Buch, das Anne Weber
mit “Annette, ein Heldinnenepos” vorgelegt
hat. Eine Zufallsbekanntschaft weckt in der
Autorin Bewunderung. Sie ist ganz einge¬
nommen von dieser Annette Beaumanoir,
wie sie von ihrer Lebensgeschichte erzählt
und was sie zu berichten hat. Der Ausgangs¬
punkt ist, wie sollte es auch anders sein,
ganz subjektiv. Doch schreibt Anne Weber
nicht die Geschichte ihrer Freundschaft,
über bewegte Abende und lange Gespräche
mit der bewundernswerten Frau. Sie ver¬
webt nicht das Leben der Anderen in ihr
eigenes, um ihre Befindlichkeit zu nähren
und über sie zu berichten. Der eigene Na¬
bel interessiert hier nicht. Das ist die erste
Unmöglichkeit. Sie gibt diesem Leben der
Annette Beaumanoir die passende erzähle¬
rische Form: ein Heldinnenepos. Dies die
nächste Unmöglichkeit. Ein Epos. Die Ta¬
ten dieser Frau sollen als das, was sie sind,
bezeichnet werden. Und da das Leben sich
aus dem zusammensetzt, was Menschen tun
und unterlassen, machen Heldentaten eine
Heldin. Das bis dahin den Männern vorbe¬
haltene, längst vergangenen Zeiten angehö¬
rende Epos belebt Anne Weber wieder und
lässt eine Frau zu dem kommen, was ihr
zusteht. Diese Annette war Kommunistin.
Schon wieder eine Unmöglichkeit, gar zwei
in einer. Eine Heldinnengeschichte über
eine Kommunistin. Zwar bricht sie 1956
mit der Partei, nicht jedoch mit derem Ideal,
Ziel und Traum. Sie verlässt die Partei, da
diese die Idee verrät, um dem Sozialismus
treu zu bleiben. Um zwei Menschenleben zu
retten, ignoriert sie, mehr als ein Jahrzehnt
zuvor, die strengen Regeln der kommunisti¬
schen Resistance, der sie angehört. Ordnet
sich den Forderungen der Partei in anderen
Fällen aber auch gegen ihr widerstrebendes
Gewissen unter, um der guten Sache nicht
zu schaden. Sie kämpft für Gerechtigkeit,
für das Gute. Oft kämpft sie auch mit sich.
Das Private ist untrennbar mit dem Politi¬
schen verknüpft. Noch so eine Unmöglich¬
keit. Aber es ist nicht das Zeitgeschehen,
das sie mit sich reißt, Annette Beaumanoir
stellt sich ihm bewusst entgegen, greift ein,
engagiert sich. Nach dem Widerstand ge¬
gen den Nationalsozialismus stellt sie sich
gegen das terroristische Kolonialregime
Frankreichs an die Seite der algerischen Un¬
abhängigkeitsbewegung. Gefangennahme,
Flucht, Mitarbeit in der ersten unabhängi¬
gen Regierung Algeriens, Enttäuschung,
im scheinbar Gewöhnlichen
Sie, das ist „Die alte Johanna”, jenes damals
13-jährige Mädchen aus “Johanna”, Renate
Welshs 1979 erschienenem Roman, der 1980
mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis
ausgezeichnet wurde.
Die Johanna von damals ist nun die “alte Jo¬
hanna”. Für ihren letzten Lebensabschnitt
ist sie zur ältesten Tochter gezogen und
verbringt ihre Tage mit den Besuchen ihrer
Kinder und Enkelkinder, dem Betrachten
der Mondsichel, nachts, bis ihre Füße zu
kalt werden, und dem Nachdenken und Er¬
innern. Gegrübelt wird bei der alten Johan¬
na nicht, was aber keineswegs heißt, dass
Vergangenes verklärt wird. Im Gegenteil:
Die alte Johanna hält nicht nur am Schönen
fest, auch das Schwierige und die Wut haben
ihre berechtigten Plätze.
Das führt mitunter zum Eklat im Super¬
markt, als Johanna beschließt, alte Belei¬
digungen nicht mehr auf sich sitzen lassen
zu wollen. Dass auch der in dieser Situati¬
on paternalistische Umgang von Johannas
Tochter mit der Wehrhaftigkeit ihrer Mutter
und Johannas Kränkung darüber Teil des
Romans von Renate Welsh sind, zeigt die
unvergleichliche Erzählweise der Autorin.
Renate Welsh schafft es, ihrer Hauptfigur
sehr nahe zu sein ohne dabei jemals etwas
von dem großen Respekt einzubüßen, mit
dem sie ihr begegnet. Nichts wird ausge¬
stellt, aber vieles erzählt. Beim Schreiben
über eine reale Person, wie in diesem Fall,
ist dies doppelt wichtig. Für Lesende, die die
erste “Johanna” nicht kennen (und auch für
alle anderen), führt Welsh in einem kurzen
Vorwort aus, wie sie zu diesen beiden be¬
sonderen Büchern kommt.
Renate Welsh, 1937 in Wien geboten, lernt
die echte Johanna als Nachbarin in einem
kleinen niederösterreichischen Dorf ken¬
nen, in dem Welshs Vater 1965 ein reno¬
vierungsbedürftiges Bauernhaus kauft.
Für einen gemeinsamen Kaffee ist trotz
Einladung lange keine Zeit, es gibt immer
etwas zu arbeiten für Johanna. Denn diese,
obwohl mittlerweile emotionales Zentrum
des Dorfes, muss sich stets beweisen, ihre
Daseinsberechtigung immer erneuern.
Der Satz ihres ehemaligen Dienstherren
“Das wäre ja noch schöner, wenn ledige
Kinder schon was wollen dürften!” schwebt
ein Leben lang über Johanna und wird auch
für Renate Welsh zu einem der Ausgangs¬
punkte für ihre Recherche und ihr Schrei¬
ben über ihre Nachbarin. Sie knüpft an den
Satz die maßgebliche Frage: “Wenn man
einem Menschen das Recht abspricht, etwas
zu wollen, was bleibt da übrig?”
Eben jenes Bedürfnis, sich stets zu bewei¬
sen, möchte man meinen. Doch in Johannas
Fall: so vielmehr. Die Grundzüge ihrer Bio¬
grafie scheinen dabei beinahe als Schablone
für unzählige weitere Frauenbiografien der
österreichischen Nachkriegszeit zu funktio¬
nieren: Nichts (für sich) wollen dürfen und
dabei Enormes leisten ohne je aufzugeben.
Flucht zurück nach Frankreich. Stoff genug
für mehrere Abenteuerromane. Anne We¬
ber erzählt von diesem engagierten Leben
jedoch in freien Versen, mitunter ironisch,
stets kraftvoll, poetisch ohne Angst davor,
Stellung zu beziehen, moralisch zu urteilen.
Dieses Buch ist ein Glücksfall. Es ist eine
Unmöglichkeit. Angesichts der bestehen¬
den Unrechtsverhältnisse, der Ohnmacht
der Gutgesinnten, der scheinbaren Aus¬
sichtslosigkeit von Widerstand spricht die
Wahrscheinlichkeit gegen solch ein Leben,
gegen solch ein Epos über dieses Leben.
Das geschieht selten, ist aber nicht unmög¬
lich. Menschen konnten sich wehren, haben
widerstanden, gekämpft, unentwegt sich
gegen Mehrheiten, Übermächte, Bedrohun¬
gen behauptet und das, was als unmöglich
galt, versucht und machnmal auch getan.
Das wirft einen Schatten auf all jene, die
sich dem Ungeist nicht entgegenstemmen.
Doch es war möglich. Es ist möglich. Dies
großartige Buch legt Zeugnis davon ab.
Bernd Zeller
Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos. Berlin:
Matthes & Seitz 2020. 207 S. € 22,¬
Eine in vielerlei Hinsichten un- oder zumin¬
dest kaumerzählte Frauengeneration, insbe¬
sondere, was proletarische Frauen und Frau¬
enim ländlichen Raum angeht. Geprägt von
einer mächtigen katholischen Kirche, harter
körperlicher Arbeit, dem Wissen darum,
wie sich wirklicher Hunger anfühlt, einer
hohen Kinderzahl und dem stetigen Arbei¬
ten dafür, dass die eigenen Kinder es “ein¬
mal besser haben sollten”.
Dass trotzdem so viel mehr als dieser Be¬
weisdruck ein Leben wie das der Johanna
als uncheliches Kind einer Magd prägt,
wird in dem Kaleidoskop ihrer Erinnerun¬
gen deutlich. Auch hier muss man Renate
Welsh dankbar sein, denn sie presst Jo¬
hannas Nachdenken nicht in den Rahmen
einer chronologischen Erzählung, sondern
nimmt das Kommen und Gehen loser Er¬
innerungen, das eigene Wundern darüber,
woher diese oder jene Erinnerung gerade
kam und die Unmittelbarkeit von sich ver¬
selbstständigenden Gedankensträngen in
die Form der Erzählung auf. Es gibt keine
Kapitel oder thematische Bündelungen,
weil Erinnerung so nicht funktioniert. Ein
roter Faden fehlt in “Die alte Johanna”
trotzdem nie, im Gegenteil: Es fällt schwer,
das Buch wieder aus der Hand zu legen, man
möchte gerne selbst an Johannas Zimmer¬
tür klopfen, Fragen stellen und an ihren
mitunter harschen Zurückweisungen zu
kauen haben. In diesem Sinne transportiert
Welshs Roman auch eine wichtige Botschaft