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für jüngere Lesende, nämlich die daran, den
eigenen Großeltern zuzuhören, ihre Er¬
zählungen wahrzunehmen, auch wenn sie
keine berühmten Skirennläuferinnen oder
Konditore waren, sondern anscheinend nur
“gewöhnliche Leben” wie eben Johanna
geführt haben. An Renate Welshs Roman
wird deutlich: So etwas wie ein “gewöhn¬
liches Leben” gibt es, richtig erzählt, nicht.
Ausgestattet mit einem großen Wissens¬
drang nach diesen Erzählungen besucht Jo¬
hannas Enkelin Sophia ihre Großmutter in
der Zeit, die deren letzte Tage werden, und
scheut auch vor den gewichtigen Fragen
nicht zurück. “Schau, Oma, nur weil du es
geschafft hast, eine starke Frau zu werden,
obwohl du in einer Scheißsituation gesteckt
bist, heißt das noch lange nicht, dass eine
Scheißsituation eine gute Schule ist, oder?”
Johanna bleibt ihrer Enkelin eine direkte
Antwort schuldig, der Roman gibt aller¬
dings hinreichend Antworten.

Eine “Zeitzeugin” zu sein und als solche
in der Klasse ihrer Enkelin zu sprechen,
weist Johanna bald zu Beginn des Buches
entschieden von sich: “Sie war nie eine
Zeitzeugin gewesen. Auch dafür brauchte
man Zeit, und woher hätte sie die nehmen
sollen?” Dass dieser Zurückweisung Erin¬
nerungen an das Überleben ihrer zehnköp¬
figen Familie mit äußerst knappen Ressour¬
cen und dem Geruch von echtem Bohnen¬
kaffee folgen, zwischen die sich zugleich
Erinnerungen an Gestapo-Denunziationen
und von den Nationalsozialisten Ermordete
fügen, zeigt eine gleich mehrdimensionale
Charakteristik jener Generation. Hier trifft

Rosi Wolfstein-Frölich.

das mehrheitsgesellschaftliche Totschwei¬
gen der NS-Zeit und ihrer Wegbereitung in
Österreich auf das Selbstbild einer Frau, die
sich nicht als politisch und ihre Zeuginnen¬
schaft nicht als relevant genug sicht, um als
“ Zeitzeugin” zu sprechen.

Dass Johanna nichtsdestominder Zeitzeu¬
gin ist, auch wenn sie sich nicht als solche
begreift, wird durch ebenjenes fast beiläu¬
fige Einfließen konkreter Erinnerungen
deutlich: das abwertende Sprechen über
Johanna und ihren Mann Peter als “rotes
Gesindel”, der Lohnherr, der von einem
Tag auf den anderen das Dollfußbild im
Herrgottswinkel gegen die Hakenkreuzbin¬
de tauscht oder aber ihre über Nacht ver¬
schwundene jüdische Freundin Ruth Löwy.
“Erinnern war nicht gut für sie, stellte sie
fest, und hatte gleichzeitig das Gefühl, dass
jetzt genau das ihre Aufgabe war”, schreibt
Welsh.

Insbesondere eine Romanstelle ist für das
Verstehen jenes Selbstbildes von Johanna
spannend. Auf Seite 57 denkt die Protago¬
nistin darüber nach, dass, wenn ihr Mann
Peter sich über Unrecht empörte, “dann
war es das Unrecht überhaupt, das Unrecht
der ganzen Welt. ‘Mir reicht, was vor mei¬
ner Nase passiert’, sagte Johanna dann. ‘Mir
reicht das, wo ich zuständig bin.’ Manchmal
dachte sie, dass Peter vor lauter Zuständig¬
keit für die großen Fragen vergaß, sich um
die kleinen zu kümmern.”

Renate Welsh fährt in ihrem Buch keine
großen Analysen oder Fingerzeige auf, Sze¬
nen wie diese reichen völlig aus, um als Bild
eines politischen Geschlechterverhältnisses
wirksam zu sein. Der feministische Leitsatz

Geboren 1888 in einer säkularisierten jüdi¬
schen Familie im preußischen Witten führt
Rosi Wolfsteins politischer Weg sie zuerst
in die SPD, wo sie auf dem linken Flügel
aktiv ist. Von dort geht es schnell in die
KPD, für die Wolfstein 1921 bis 1924 so¬
gar im Preußischen Landtag sitzt. 1929 wird
sie schließlich als Angehörige des “rech¬
ten Flügels” ausgeschlossen. Aktiv in der
KPD-Opposition, tritt sie wie ihr Partner,
der 1884 geborene Paul Frölich, 1931 in die
heute unbekannte, aber damals einige Zeit
durchaus wichtige Sozialistische Arbeiter¬
partei (SAP) über. 1942, da bereits fast zehn
Jahre im Exil und ein Jahr in New York,
ziehen die Frölichs sich auch aus der SAP
zurück. 1948 erst heiraten die beiden, 1951
(Wolfstein ist 63 Jahre alt) kehren sie in die
Bundesrepublik zurück, treten wieder in die
SPD ein, da sie den Weg der KPD und der
SED ablehnen. Leider stirbt Frölich, der
1939 eine der ersten Biographien über Rosa
Luxemburg veröffentlicht hatte, und auch
als ihr zumindest zeitweiliger Nachlassver¬
walter gilt, bereits zwei Jahre später.

Der Historiker Altieri erzählt in knapper
und treffender Form das Resultat seiner
mehrjährigen Forschung zum Leben und
Engagement der Sozialistin, die bereits

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1916 auf dem linken Flügel der SPD aktiv
und mit Rosa Luxemburg auch privat be¬
freundet ist.

Insgesamt 18 Jahre leben die Frölichs im
Exil, anfangs getrennt, sie in Belgien, er in
der Tschechoslowakei, dann zusammen in
Frankreich, von wo aus ihnen nicht zuletzt
durch die Hilfe von Varian Fry 1941 die
Flucht nach New York gelingt. Rosi Frölich
hält über Jahrzehnte Kontakte nach Bel¬
gien, in die USA und nach Israel. Sie reist
noch mehrmals in die USA und sogar nach
Jugoslawien. Politisch richtet sich ihr Blick
aber hauptsächlich wieder auf Deutschland.
Sie wird zu einer innerparteilichen Kritike¬
rin der SPD, greift Parteigrößen wie Her¬
bert Wehner direkt, Helmut Schmidt eher
indirekt an, macht gar Willy Brandt Vor¬
würfe. Von der SPD wird sie weitgehend
ignoriert, erst zu ihrem 90. und dann zum
95. Geburtstag und letztlich bei ihrer Bei¬
setzung und späteren Trauerfeier “gechrt”.
Sie interessiert sich massiv für die weib¬
lichen Opfer des Stalinismus, geht vielen
Einzelschicksalen nach, macht Überleben¬
de ausfindig und erkundigt sich nach dem
Verbleib ehemaliger Genossinnen. Dem
Schicksal der NS-Opfer, insbesondere z.B.

“Das Private ist politisch” hat vielleicht als
solcher nie in Johannas Leben gefunden,
seine Implikationen aber ziehen sich durch
ihre Erinnerungen. Von der selbstbestimm¬
ten Entscheidung, auch ledig ihr Kind zu
bekommen, über das Reflektieren ihrer Er¬
ziehung (“Vielleicht hatte sie wirklich von
den Söhnen weniger verlangt als von den
Töchtern.”) bis hin zur Frage, wer sich wel¬
che makropolitischen Überlegungen ange¬
sichts alltäglicher Herausforderungen über¬
haupt ‘leisten’ kann.

“Johanna hatte nicht daran geglaubt, dass
das Glück kommen würde, von wo auch
immer. Sie hatte eine Entscheidung getrof¬
fen, ganz für sich allein.”

Diese selbstbewusste Stärke Johannas gibt
Renate Welsh in ihrem Roman ohne Ro¬
mantisierungen wieder, und das ist nur ein
Grund, warum die Lektüre empfehlenswert
ist. Gerade die große Zärtlichkeit, mit der
Welsh ihrer Protagonistin begegnet und uns
bis zu ihrem letzten Tag mit ihr die Stube
und die Erinnerungen teilen lässt, berührt
zutiefst. “Langsam entstand der Wunsch,
ich könnte ihr das, was ihr widerfahren wat,
so zurückgeben, dass sie erkannte, wie stolz
sie sein musste auf das, was sie aus dem Roh¬
material ihrer Erfahrungen gemacht hatte”,
schreibt Welsh in ihrem Vorwort, und man
würde sich die Autorin als Chronistin vieler
weiterer Frauenbiografien wünschen.
Katherina Braschel

Renate Welsh: Die alte Johanna. Roman. Wien:
Czernin 2021, 192 S. € 20,¬

ihrer eigenen Schwestern, ging sie nie wirk¬
lich nach. Vielleicht, um es nicht an sich
heranzulassen.

Altieris Text ist eine gelungene Schilderung
des Lebensweges, wobei durch seine Kürze
die politischen Entwicklungen und Kon¬
flikte etwas zu kurz kommen. Mit dieser
kleinen Publikation liegt der erste gesamt¬
biographische Text über eine Jüdin und ent¬
schiedene Antistalinistin vor, der Auskunft
über eine sprichwörtliche Jahrhundertbio¬
graphie gibt. Wolfstein hat ein Leben ge¬
lebt, in dem das Streben nach einer gerech¬
ten Gesellschaft bis zu ihrem Tod 1987 sehr
stark war.

Wer mehr über das Ehepaar Frölich-Wolf¬
stein erfahren will, kann dann in absch¬
barer Zeit zur in Buchform erscheinenden
Dissertation von Altieri greifen.

Bernd Hüttner

Riccardo Altieri: Rosi Wolfstein-Frölich. Sozial¬
demokratin und Antimilitaristin. Leipzig, Berlin:
Hentrich & Hentrich Verlag 2021, 66 S., € 8,90