als “Asyl für arme brustkranke Juden” ge¬
gründet worden war und das im Lauf der
Jahre zunehmend von Mittelstandsangehö¬
rigen frequentiert wurde.®
Sowohl der Schriftsteller David Vogel als
auch das jüdische Sanatorium in Meran
sind Themen einer beeindruckenden Pub¬
likation zum “anderen Meran aus jüdischer
Perspektive” von Sabine Mayr.’ Das Buch
kann auch als Vorgeschichte ihrer 2015
erschienenen, ebenfalls sehr lesenswerten
Studie zur jüdischen Gemeinde in Meran
während des Nationalsozialismus gelesen
werden.'' In ihrer neuen Publikation, ur¬
sprünglich als Doktorarbeit in Wien ein¬
gereicht, spannt die Südtiroler Historikerin
einen weiten Bogen vom tief verwutzelten
Antisemitismus in Tirol, beginnend mit der
Konstruktion von “Kindsmärtyrern” im
historischen Tirol des 15. Jahrhunderts bis
zur politisch-öffentlichen Gegenwehr jü¬
discher und vereinzelt auch nicht-jüdischer
Schriftsteller und Schriftstellerinnen im 19.
und frühen 20. Jahrhundert. Dieses “ande¬
re” Meran beschreibt Mayr 2020 in einem
Interview mit der Südtiroler Tageszeitung
“Dolomiten” folgendermaßen:
“Das andere Meran ist ein liberales, zu¬
kunfts- und lebensfrohes Meran, das viel
Wert auf Bildung legt. Es ist ein kreativer
Ort, in dem sozial engagierte Menschen, die
sich gegenseitig helfen und solidarisch für
einander da sind fortschrittlich, engagierte
Menschen auf rückwärtsgewandte, autoritä¬
re Vereinnahmungen kritisch reagieren und
mit kreativen Gegenentwürfen zurück wei¬
sen.”
Im Mittelpunkt von Mayrs Studie steht die
Auseinandersetzung jüdischer AutorInnen
des 19. Jahrhunderts mit der konservativ-ka¬
tholischen Dominanz im Tirol der Habs¬
burgermonarchie. Dabei vertieft sich Mayr
auch gründlich in die literarische Konstruk¬
tion des “Heiligen Landes Tirol” durch kon¬
servative AutorInnen rund um den Andreas
Hofer-Mythos, der von Schriftstellern wie
dem Theologen Beda Weber (1798- 1858)
in einen völkischen Deutschnationalismus
überführt wurde.
Merans Entwicklung zur “Kurstadt” be¬
gann in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahr¬
hunderts und von Anfang an waren auch
AkteurInnen jüdischer Herkunft daran mit¬
beteiligt, sei es als GründerInnen von Sa¬
natorien und HotelbesitzerInnen, als Arz¬
te oder als SchrifstellerInnen. So stammt
eines der ersten Tiroler Reisebücher (1835)
von August Lewald (1792-1871). In “Tyrol,
vom Glockner zum Orteles, und vom Gar¬
da- zum Bodensee. 1833-1834” beschreibt
er enthusiastisch die “liebenswürdigen Na¬
turmenschen”, die sein Gemüt erheiterten.
Die Idealisierung der “Naturmenschen”
zeugt ebenso von einem kolonisierenden
Blick, der Reisende schon damals auszeich¬
nete, wie ihre verallgemeinernde Zeichnung
als beschränkte BergbewohnerInnen, wie
dies bei Heinrich Heine (1797-1856) in sei¬
ner “Reise von München nach Genua” aus
dem Jahr 1828 nachzulesen ist: “Die Tyro¬
ler sind schön, heiter, ehrlich, brav und von
unergründlicher Geistesbeschränktheit”
schreibt er in Karikierung von Josef von
Hormayts mystifizierender und naturali¬
sierender Beschreibung der Tiroler. Die
Beschränkung einer konservativen, religiös
geprägten ländlichen Welt, zu der seit Jahr¬
hunderten auch ein religiöser Antisemi¬
tismus gehörte, führte bei liberalen städti¬
schen Autoren wie dem in Meran beerdigten
Daniel Spitzer (1835-1893) gelegentlich zu
satirischen Ausritten. So etwa, wenn er in
seinen “Wiener Spaziergängen” amüsiert
Tiroler Bauern beschreibt, die orthodoxen
Juden die Hand küssen, weil sie sie infolge
des Kaftans für katholische Geistliche hal¬
ten.
In diesem Umfeld ist es nicht verwunder¬
lich, dass Forderungen nach der Emanzipa¬
tion von Frauen insbesondere im Berufsle¬
ben wie es Clara Schreiber (1848 in Wien—
1905 in Meran) zu Beginn der 1890-er Jahre
in einem in der Meraner Zeitung erschienenen
Artikel thematisierte, sowohl antisemitische
als auch frauenfeindliche Reaktionen in der
konservativen Presse hervorriefen, in denen
die Forderung nach Gleichberechtigung als
“naturwidrig” bezeichnet wurde. Die Fa¬
milie Schreiber war um 1880 nach Meran
gezogen und betrieb dort — abgesehen von
den Sommermonaten, die sie in Bad Aussee
verbrachte-eine Heilanstalt für Nerven¬
und Magenleiden. Claras Tochter Adele
Schreiber-Krieger (1872-1957) trat in die
Fußstapfen ihrer Mutter und engagierte sich
zeitlebens und auf internationaler Ebene
für die “Frauenfrage”. Die damalige “Pen¬
sion Hygiea” die die Eltern Adeles in Meran
betrieben hatten, ist heute ein Altersheim.
So wie auch das 1891 von Norbert von
Kaan (1864-1943) gegründete Sanatorium
für Nervenleiden in Martinsbrunn, dessen
Vater Raimund von Kaan (1837 -1905) Sa¬
nitätsrat und Bezirksarzt von Meran gewe¬
sen ist. Der Neurologe Norbert von Kaan
übergab im Jahr 1934 die Betriebsführung
des angesehenen Sanatoriums den “Barm¬
herzigen Schwestern”. Im Jahr 1941 ging
das gesamte Anwesen nach mehrjährigen
Verhandlungen in den Besitz des Provinz¬
hauses der Ordensschwestern vom Hl. Vin¬
zenz von Paul in Bozen über, wie Theresa
Indjein-Untersteiner, eine Nachfahrin von
Norbert von Kaan, schreibt. Im Jahr 1943
wurde das Haus zur Ausweichstation für
das Meraner Krankenhaus erklärt, zum
Kommissarischen Leiter wurde Dr. Inner¬
hofer ernannt. Norbert von Kaan starb im
Juli 1943 79-jährig in Meran, eine Todesur¬
sache wird nicht erwähnt. Seine Frau Mela¬
nie Rehmann lebte bis zu ihrem Tod im Jahr
1952 in Martinsbrunn.'?
Und wie ging es in Else Feldmanns Roman
weiter? In Meran lernt die kranke Schwes¬
ter Antonia einen Zahntechniker kennen
und bleibt, während Martha allein ins Elend
nach Wien zurückkehrt. Die Autorin Else
Feldmann wurde am 14. Juni 1942 mit dem
Zugtransport Nr. 27 und weiteren 995 Jü¬
dinnen und Juden aus Wien direkt in das
Vernichtungslager Sobibör gebracht und
ermordet. Angesichts dieses Wissens lesen
sich die letzten erschienenen Zeilen von
“Martha und Antonia”, in denen Martha
über Bahnhöfe und Abschiede sinniert, an¬
ders:
“Wieder Bahnhof. Bahnhof ist etwas Merk¬
würdiges in meinem Leben, schon als Kind,
wenn wir vom Bahnhof lernten, dachte ich
daran wie an ein großes Rätsel. Ein Riesen¬
gebäude, von dem aus man wegfahren kann.
Und was ist, wenn man wegfuhr? Da lernte
man andre, ganz neue Dinge kennen. Aber
was ist am Schluß aller dieser neuen Dinge?
Ach, nichts.”
1 Else Feldmann: Martha und Antonia.
Wien: Milena Verlag 1997. Mit einem Nach¬
wort von Adolf Opel und Marino Valdez.
Eine jüngere Publikation ist: Else Feld¬
mann: Flüchtiges Glück. Reportagen aus
der Zwischenkriegszeit. Hg. von Adolf Opel
und Marino Valdez. Wien: Edition Atelier
2018. Zum Leben Else Feldmanns siehe
auch. Herbert Exenberger (Hg): Als stünd’
die Welt in Flammen. Eine Anthologie er¬
motdeter sozialistischer Schriftstellerinnen.
Wien: Mandelbaum Verlag 2000.
2 Nach dem 12. Februar 1934 wurden die
Arbeiter-Zeitung und die SDAP in Österreich
verboten.
3 Ich danke Hanna Hacker herzlich für die
Informationen zu beiden Autorinnen.
4 Hanna Hacker: Frauen* und Freund_in¬
nen. Lesarten “weiblicher Homosexuali¬
tät” Österreich, 1870-1938. Reihe Challen¬
ge Gender, Bd. 4, Wien: Zaglossus 2015
(Erstauflage 1987).
5 Hermynia Zur Mühlen: Werke (4 Bände),
Band 1: Erinnerungen und Romane. Kom¬
mentiert von Ulrich Weinzierl. Zsolnay
2019, S. 141 ff.
6 Lisbeth Exner: Leopold von Sa¬
cher-Masoch. Hamburg: Rowohlt 2003. Le¬
opold von Sacher-Masoch: Venus im Pelz.
Mit einer Studie über den Masochismus von
Gilles Deleuze. Frankfurt/M.: Insel 1980.
Kürzlich neu aufgelegt wurden die 1906
erstmals erschienenen Lebenserinnerun¬
gen der Ehefrau Leopold Sacher-Masochs,
Angelika Aurora Rümelin, die sich nach der
Heldin der “Venus im Pelz” Wanda nann¬
te: Wanda Sacher-Masoch: Meine Lebens¬
beichte. Memoiren und Masochismus und
Masochisten. Nachtrag zur Lebensbeichte.
Neu herausgegeben u. kommentiert von
Wulfhard Stahl. Reihe: biografiA. Neue
Ergebnisse der Frauenbiographieforschung
Bd. 24. Wien: Praesens 2020.
7 Die Erzählung erschien 1994 erstmals auf
deutsch. David Vogel: Im Sanatorium. An
der See. Zwei Novellen. Aus dem Hebräi¬
schen von Ruth Achlama. München, Leip¬
zig: Paul List 1994.
8 Elisabeth Malleier: Jüdische Spitäler,
Krankenunterstützungsvereine und Kran¬
kenpflegeschulen in Osterreich-Ungarn.
Forschungsbericht, gefördert von der Ro¬
bert Bosch-Stiftung, Stuttgart. Wien 2007.
9 Mayr Sabine: Von Heinrich Heine bis Da¬
vid Vogel. Das andere Meran aus jüdischer
Perspektive. Innsbruck, Wien, Bozen: Stu¬
dienverlag 2019.
10 Sabine Mayr und Joachim Innerhofer:
Mörderische Heimat. Verdrängte Lebens¬
geschichten in Bozen und Meran. Bozen:
Raetia 2015.
11 Dolomiten, Bozen, 5. Februar 2020, S. 6.
12 Theresa Indjein. Kein anderes Glück.
Von Liebe und Leben der Barmherzigen
Schwestern in Südtirol. Wien, Berlin: Zweit¬
raumverlag 2010