Orion oder jenen Amors konnte und wollte
sich auch Char nicht entziehen. Freund¬
schaften und leidenschaftliche Liebesbe¬
ziehungen haben Char stark angetrieben,
zahlreiche Gedichte zeugen davon. Auch
im Roman entstehen mit und zwischen den
Personen, die das Paar kennenlernt, immer
wieder Konstellationen, die auf eine andre
Weise die Geschlechterspannung zwischen
Mann und Frau zur Sprache bringen. Um
Gewalt und Terror zu überwinden, oder zu¬
mindest zu trelativieren, werden Liebe und
Sexualität als positive Kräfte erkannt und
gelebt.
Sowohl das Poetische als auch unsere Exis¬
tenz ist permanent Gefahren ausgesetzt,
das Aufblitzen eines Mündungsfeuers - ich
nehme das Bild als Synonym für Krieg und
Gewalt - ist eine ständige Bedrohung. Rene
Char nahm als Partisan den Widerstand
auf. Am Ufer der Sorgue geboren, die im
Karst der Vaucluse entspringt, hatte er seit
seiner Kindheit ein Fließen vor Augen, das
mit Dauer in Verbindung gebracht werden
kann. Auf dieses “Panta rhei” des Heraklit,
sowie auf die Vier-Elemente-Lehre der An¬
tike, bezieht sich Char immer wieder in sei¬
ner Dichtung.
Die Wochen im Luberon werden für die
beiden Fährtenleser aus dem Norden — so
viel wird bald klar — kein Ferienaufenthalt,
denn die Spaziergänge und -fahrten führen
sie in ungeahnte Traumgespinste und tat¬
sächlich, wie erhofft, tief an die komplizier¬
te Existenz des Dichters heran, der gegen
Ende seines Lebens immer mehr Grenzen
überschreitet und wahnsinnig wird.
Die elaborierte Sprache, um lange, gut
gebaute Sätze nicht verlegene Prosa ent¬
wickelt zur Qualität der Gedichte Chars
eine adäquate Parallelität. Verwoben wird
das Erzählen immer wieder mit essayisti¬
“Nun also, was hat dir der Arzt geraten?
Welchen Ort im Süden? Bozen oder Mer¬
an? Gut, dann fährst du nach Meran — dabei
bleibt es: Meran.
Plötzlich springt Antonia auf, springt mir
mit äußerster Wildheit ins Gesicht, so dass
ich zurücktaumle. ‘Martha’ schreit sie, ‘du
fährst mit!’ “Bist du verrückt?”'
Es war eine Zeit großer politischer Span¬
nungen und wirtschaftlicher Unsicherhei¬
ten in Österreich, als die Schriftstellerin
Else Feldmann (1884-1942) die LeserInnen
der Arbeiter-Zeitung in eine andere Welt ent¬
führte. Ihr seit November 1933 in 74 Folgen
erschienener Fortsetzungsroman “Martha
und Antonia” blieb unvollendet — die letz¬
te Folge erschien am 11. Februar 1934.” In
dem Roman geht es um zwei Schwestern,
die in Wien in großer Armut leben. Eine
von ihnen, Martha, eine Prostituierte, fi¬
nanziert ihrer lungenkranken Schwester
einen Kuraufenthalt in Meran. So kommt
es, dass mehr als die Hälfte des Romans in
Meran spielt.
Auch für andere, in kargen Verhältnissen
lebende Autorinnen war Meran ein Ort,
an den sie in ihrer literarischen Phanta¬
sie flüchteten. So ließ etwa Charlotte Falk
in der Berliner Zeitschrift Die Freundin im
Jahr 1931 ihre lesbischen Protagonistinnen
in Meran aufeinandertreffen, ebenso wie
Emma Zelenka in ihrem Forstsetzungsro¬
man “Die Verführte”, der im selben Jahr in
der Freundin erschien. Darin trifft die Ro¬
manheldin auf der Gilfpromenade in Meran
zum ersten Mal jener “schlanken, eleganten
Erscheinung im blauen Tuchmantel”, de¬
ren Anblick ihr unvergesslich bleibt und
nach deren Aufmerksamkeit sie sich sehnt.?
Auch wenn in den beiden Erzählungen im
Gegensatz zu Else Feldmann die sozialen
Unterschiede zwischen den Protagonistin¬
nen nur gestreift werden und die Autorin¬
nen sich in eine sonnige, blühende Welt
der Wohlhabenden hineinschreiben, un¬
terlaufen sie doch die der Trivialliteratur
zugeschriebene Funktion der Verfestigung
traditioneller Wertvorstellungen, wie Ha¬
cker in ihrer Analyse lesbischer Belletristik
feststellt. Sowohl Charlotte Falk als auch
Emma Zelenka wandten sich auch in Form
von Briefen an Die Freundin, in denen sie
die prekären Lebensverhältnisse alleinste¬
hender Frauen thematisieren. So berichte¬
te die in Wien lebende Emma Zelenka im
Jahr 1932 vom “grauenvollen Gespenst
der Selbstmordepidemie” besonders unter
jenen Frauen, die dem “unseligen Heer”
(nach Radcliffe Halls “Quell der Einsam¬
keit”) frauenliebender Frauen angehörten:
“L...]Ich weiß, es existieren so viele bra¬
ve, arbeitsame Frauen, Mädchen, die wohl
noch das Glück haben in einer Arbeitsstelle
zu sein, aber wegen ihrer Veranlagung ver¬
lassen und gemieden ihre Tage zubringen
müssen. Die, welche nicht zu jenen oberen
Zehntausend gehören, die in exklusiven
Bädern ihren ebenso exklusiven Passionen
huldigen. Ich spreche von jenen, die sich
mühselig genug durch dieses Leben schla¬
gen, die hinter der Schreibmaschine sit¬
zen, im Modesalon tätig sind oder sich im
Hutsalon das liebe Brot verdienen. Oder
Künstlerinnen, die zu irgendeinem unter¬
geordneten Beruf greifen müssen, um nicht
mitsamt ihrem Ideal zu verhungern ...
Ja, leben müssen sie für andere ... aber ster¬
ben dürfen sie dann für sich allein! [...]”
In ihrem Offenen Brief regte Zelenka einen
Zusammenschluß gleichgesinnter Frauen
zum gegenseitigen Austausch an.
Die “oberen Zehntausend”, Schriftstelle¬
tInnen und Schriftsteller ohne finanzielle
Probleme nutzten ihre Meranaufenthalte
zum Schreiben und verkürzten sich da¬
mit mehr oder weniger erfolgreich den
eintönigen Kuralltag. So schrieb die rus¬
sisch-deutsche Schriftstellerin und spätere
Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé
(1861-1937) ihren ersten Roman in Mer¬
an. Hermynia Zur Mühlen (1883 — 1951)
schreibt, dass sie als junge Frau mit Anfang
20 von ihren Eltern mit wenig Begeisterung
als “Gesellschafterin nach Meran abgescho¬
ben” wurde. Sie wurde in der liberalen Me¬
raner Zeitung-unter Pseudonym-zum ersten
schen, Querverbindungen herstellenden
Passagen. Zudem bietet ein ausführlicher
“Fährtenapparat” zusätzlich Hinweise,
Zitate und Quellenangaben. Ein in sich
schlüssiges Werk, das die Fabulierlust, die
Obsession für Details nicht verbirgt. Einige
retardierende Passagen führen zu — subjek¬
tiv gesehen — manchen Längen, die jedoch,
aufgrund der Sprache, dem Leser Genuss
bereiten können. Ja, Sprache kann mehr als
manche ihr zutrauen. So sei auch dem Dich¬
ter das letzte Wort verliehen: “Wie leben,
ohne vor sich Unbekanntes? / Die Men¬
schen von heute wollen, dass das Gedicht
nach dem Bild ihres Lebens gemacht sei, so
arm an Rücksicht, so arm an Raum und ver¬
brannt von Unduldsamkeit.”
Richard Wall
Peter Sommerfeld: Fährtenlesen Roman. Weitra:
Bibliothek der Provinz 2021, 304 S. € 28,¬
Mal gedruckt, ohne Bezahlung, versteht
sich, denn “...es war Ehre genug, überhaupt
gedruckt zu werden.’
Zu einer gueeren Geschichte Merans wür¬
de auch eine Erwähnung von Leopold
von Sacher-Masoch (1836-1895) gehören.
Er begegnete dem Vorbild für die Heldin
seiner berühmtesten Erzählung, der “Ve¬
nus im Pelz”, Fanny Pistor, 1869 ebenfalls
erstmals auf der Promenade in Meran. Sa¬
cher-Masoch, der lange Jahre als Geschicht¬
sprofessor in Graz lebte, hielt sich aus Ge¬
sundheitsgründen mehrfach in Meran auf.
Die im Jahr 1870 erschienene Novelle “Ve¬
nus im Pelz” des Sohnes des Polizeipräsi¬
denten von Lemberg mit seiner Schilderung
eines erotischen Herrin-Knecht-Verhältnis¬
ses wurde von Krafft-Ebing (1840-1902)
in seiner “Psychopathia sexualis” (1. Aufl.
1886) als Bezeichnung für eine von ihm als
Perversion beschriebene sexuelle Vorliebe
benutzt, was Sacher-Masoch nicht gern sah.
Doch wurde er, nicht zuletzt aufgrund der
“Venus im Pelz”, zu einem berühmten und
in Frankreich mit einem Orden ausgezeich¬
neten Autor.‘
Ein anderer Autor, dessen Beschreibung ei¬
nes Macht- und Unterwerfungsverhältnis¬
ses zwischen einer Frau und einem Mann
in der wissenschaftlichen Forschung als
sadomasochistisch interpretiert wird, war
David Vogel (1891-ermordet in Ausch¬
witz 1944) mit seinem zuerst 1929 in he¬
bräischer Sprache in Palästina erschienen
Roman “Eine Ehe in Wien”. Bereits zuvor,
im Jahr 1926 war ebendort die Novelle
“Im Sanatorium” publiziert worden. Die
Haupthandlung der Erzählung spielt im
“Sanatorium für arme brustkranke Juden”
in Meran.” David Vogel war in den 1920¬
er Jahren zweimal Gast im Sanatorium ge¬
wesen. Er und Else Feldmann könnten sich
sogar in Meran getroffen haben. Auch Vo¬
gel hatte Armut am eigenen Leib erfahren.
Else Feldmann platziert den Aufenthalt der
beiden Schwestern in Meran in einer Pensi¬
on hinter dem Meraner Hof. Dort war auch
der Standort des Meraner Sanatoriums der
“Königswarter Stifung”, das ursprünglich