Hatten Zdistav und andere nach brauchbaren Utensilien gesucht?
Ich beginne meinen Spaziergang. Keine hundert Meter weiter
bleibe ich unterhalb der Autobahnbrücke stehen und blicke hoch
zum Widerlager. Dort ist Stanislaw bei einem Baugrubeneinsturz
ums Leben gekommen. Dieser Unfall muss so gewaltig gewesen
sein, dass nicht nur in lokalen, sondern auch in überregionalen
Zeitungen wie dem Völkischen Beobachter berichtet wurde.
Tödlicher Unfall ... Bei einem Brückenbau in Vorchdorf (Kreis
Gmunden) wurden drei Arbeiter bei einem Erdrutsch verschüttet. ...°
Haben sich Zdistav Frankowski und Stanistaw Pawelczyk ge¬
kannt? Dreieinhalb Jahre liegen zwischen ihren Sterbedaten.
Bei Stanislaw findet sich Klobuko als Geburtsort eingetragen,
Zdistav stammte aus Lemberg. Auf Stanistaw wartete seine Frau
Genoveva in Warschau, Zdistav war ledig. Stanislaw ist 30 Jahre
alt geworden.
Den Pfeilern der Autobahnbrücke scheint die Zeit nichts anhaben
zu können. Granitblock ruht auf Granitblock. An sonnigen Ta¬
gen wirkt ihr Grau eine Spur aufgehellt. Oben am Brückenträger
bemerke ich eine Veränderung. Auf beiden Seiten der Pfeilerstüt¬
zen wurden neue Aufsätze angebracht. Auskragen, nennen das
die Bautechniker, zu dem Zweck die Fahrbahnen zu verbreitern.
Am gegenüberliegenden Ufer sind hinter Gestrüpp Planen
von Lastkraftwagen und Anhängern zu erspähen. Auch Cont¬
ainer lagern auf dem Fuhrpark eines Logistikunternehmens.
Klein-Mühltal wurde diese ebene Fläche früher genannt, obwohl
sie als Adresse Feldham trug. Ein Kanal, der keine 500 Meter
weiter flussaufwarts vom Almfluss abgeleitet wurde, durchquerte das
Grundstück, welches an drei Seiten von steilen Hängen begrenzt
ist. Zwei große Häuser lagen an diesem Gewässer, die Hauser
Mühle und die Grünauer Mühle. In der Hauser Mühl wohnten
in meiner Schulzeit arme Leute, das Gebäude schien halbverfallen,
von Mühle keine Spur mehr. Der Kanal floss an diesem Gebäu¬
Philipp Lehar
Stolpersteine in Wattens.
Ein lokales Erinnerungsprojekt
Eine katholisch geprägte Industriegemeinde
Wattens liegt 17 km östlich von Innsbruck. Die Marktgemeinde
zählt mehr als 8.000 Einwohner, ist geprägt von Industrie und
der katholischen Kirche. Seit 1559 gibt es eine Papierfabrik und
seit 1895 hat sich das Kristallunternehmen Swarovski im Ort an¬
gesiedelt. Neben vielen weiteren Unternehmen gibt es das Start
Up Zentrum Werkstätte und die u.a. für Verkehrsleitsysteme
weltweit tätige Firma Swarco. Zahlreiche Vereine und die katho¬
lische Pfarrgemeinde prägen das öffentliche Leben. Neben der
Erinnerung an die Gefallenen und Vermissten der Weltkriege ist
besonders das Gedenken an Jakob Gapp präsent im öffentlichen
Raum. Gedenktafeln, eine Büste, ein Gemälde und die Benen¬
nung eines im Besitz der Pfarre befindlichen Hauses erinnern zu¬
sammen mit jährlichen Gedenkfeiern an den 1943 hingerichte¬
ten und 1996 seliggesprochenen aus der Gemeinde stammenden
Priester. Theaterstücke, Lehrmittel und Publikationen halten die
Erinnerung wach. Eine Erinnerung, die lange verschüttet war.
Bis zur Seligsprechung mahnten nur Einzelne den NS-kritischen
Priester, der klare Worte fand, nicht zu vergessen. Zu nennen sind
de vorbei auf die Grünauer Mühl zu, betrieb dort eine Sag, ein
Sägewerk. Große Holzstämme stapelten auf einer Seite des Ka¬
nals, auf der anderen lagen aufgereiht geschnittene Bretter und
Holzabfälle.
War esauf dem Stapelplatz? Waren Holzbloche ins Rollen gekom¬
men und auf ihn gestürzt? Quetschung des Brustkorbes (innere Blu¬
tung) findet sich im Totenbuch eingetragen. Eugeniusz Stanak®
verstarb am 27. Mai 1944. 22 Jahre alt. Seine Beerdigung fand
am 31. Mai 1944 um 11 Uhr statt.
Ein gleichschenkeliges Dreieck von tödlichen Unglücksfällen:
Stanislaw, Eugeniusz, Zdistav. Ich breche meinen Spaziergang ab und
fahre zum Friedhof zurück. Das Grab von Eugeniusz Stanak mit der
Nummer XVII/12 wurde Anfang der 1950er Jahre aufgelassen.
2021 erinnert nichts an die polnischen Zwangsarbeiter, die unten
im Tal ihr Leben ließen. Auch auf den Pfeilern der Brücke findet
sich keine Tafel.
1 Stanistaw ist ein Protagonist des Romans „Und alle winkten. Im
Schatten der Autobahn“, erschienen 2018 im Verlag der Theodor Kra¬
mer Gesellschaft.
2 Todesregister der Gemeinde Vorchdorf 1942 Eintragung Nr. 3.
3 Todesregister der Gemeinde Vorchdorf 1945 Eintragung Nr. 58.
4 Schwarzelmüller Rudolf „Vorchdorf Ein Heimatbuch für Schule und
Haus“, Vorchdorf 1959, S. 343.
5 Völkischer Beobachter Nr. 290 17. Oktober 1941 S. 4.
6 Abweichende Namen finden sich im Grabbuchauszug der Pfarrge¬
meinde Vorchdorf bzw. in einem Dokument des Arbeitsamtes Gmun¬
den Gz: H/z 5768/5519 B vom 7. August 1944: Emanuel Stanack / Eu¬
gen Stanak.
Gemeinderat Adolf Grubinger und sein Bruder Pater Franz Gru¬
binger SVD. Als Ritterkreuztrager bzw. Priester versuchten sie
mit ihrem Anliegen auch bei den Traditionsverbanden und in der
Kirche Gehör zu finden und den Priester, den sie gekannt hatten,
zu würdigen. Seit 1996 überdeckt die Erinnerung an den Seligen
aber ein Stück weit die Auseinandersetzung mit dem National¬
sozialismus in der Gemeinde als Gesamtes. Heikle Themen wie
Zwangsarbeit und die Verwicklung prominenter Familien und
Personen bleiben häufig ausgespart.
Um einen Anstoß zu einer aktiven Erinnerungskultur zu geben,
regte Kulturreferent und Gemeinderat Lukas Schmied die Ver¬
legung von Stolpersteinen in Wattens an. Gemeinsam mit dem
in Ort aufgewachsenen und lebenden Historiker Philipp Lehar
überlegte er für welche Personen Stolpersteine passend wären.