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Auch mit der Abkehr vom sowjetischen Modell des Kommunis¬
mus versuchte man, ein System, das im Einklang mit den Vorstel¬
lungen einer egalitären und selbstbestimmten Gesellschaft steht,
zu generieren. In der Tat blühten Kunst, Kultur sowie Konsum
auf, sowohl die Infrastruktur als auch das Schulwesen wurden wei¬
ter ausgebaut und die Föderalisierung großzügig vorangetrieben.
Doch Jugoslawien verschuldete sich zusehends. Insbesondere nach
der Ölpreiskrise 1973 sah man sich gezwungen, ausländische Kre¬
dite aufzunehmen, mit denen man das Bild einer prosperierenden
Nation beibehalten wollte. Unterdessen stiegen die Schulden bis
zum Tod Titos auf 21 Milliarden Dollar. Die Folge waren Wachs¬
tumseinbußen, Arbeitslosigkeit und eine Hyperinflation, woraus
ein eklatanter politischer Legitimitätsverlust entstand. Es folgten,
wie einzelne in den bisherigen Untersuchungen Interviewte mein¬
ten, Mehrparteienwahlen, Krieg und Vertreibung. Interessant da¬
bei erscheint besonders die Verquickung von Mehrparteienwahlen
und der Schlussfolgerung, diese wären unmittelbarer Kriegsgrund
und -auslöser gewesen. Damit werden teils jahrzehntelange, äu¬
ßerst komplizierte soziopolitische Fehlentwicklungen negiert.
Nachdem die Brandherde in den ehemaligen Teilrepubliken er¬
loschen waren und sich überaus komplexe Bündnisprozesse zwi¬
schen Bosniaken, bosnischen Serben, bosnischen Kroaten, kro¬
atischen Serben und serbischen Kroaten und in den jeweiligen
Randgebieten ansässigen Minderheiten gebildet hatten, lag der
jugoslawische Vielvölkerstaat sowie dessen Ideologie der „Brü¬
derlichkeit und Einheit, in Trümmern; Hunderttausende Tote
und Millionen Vertriebene waren die Folge. Im Übrigen trenn¬
ten sich hier auch die Wege von Zabranjeno PuSenje. Aufgrund
persönlicher Differenzen emigrierte der Sänger bereits 1992 nach
Belgrad, wo er gemeinsam mit dem Regisseur Emir Kusturica
das No Smoking Orchestra gründete, das bis heute regelmäßig
Konzerte gibt und sich auch nicht davor scheute, dem 2016 ver¬
urteilten Kriegsverbrecher Radovan Karadzié zu huldigen. Die
Formation aus Sarajevo besteht dariiber hinaus nach wie vor. Bei¬
de beanspruchen die Hits der Vorkriegszeit fiir sich.

Fragt man heute in Jugoslawien sozialisierte Mitglieder über 40
einer beispielsweise bosnischen Community in Österreich, wel¬
che Erinnerungen sie an sowie Bilder und Eindrücke von Jugos¬
lawien haben, so werden nicht primär die gewaltige Inflation, der
latente Nationalismus, die brutale Desintegration oder Ähnliches
genannt; im Vordergrund — so konnte ich während erster Un¬
tersuchungen zeigen — stehen vorwiegend Erinnerungen an eine
solidarische Gesellschaft, menschenverbindende Elemente, eine
subjektiv erlebte Freiheit und der starke Glaube daran, dass man
in der bestmöglichen aller Welten lebte. Dabei kommt es verein¬
zelt auch vor, dass diese Erinnerungen mit einer Verherrlichung
Titos oder des Partisanentums abgerundet werden. Behauptun¬
gen, die Partisanen hätten nie geplündert, Tito hätte nie Eigen¬
tum besessen und dass man früher — präzise Zeitangaben werden
selten gemacht — nie die Haus- und Wohnungstüre zusperren
hätte müssen, sind dabei keine Seltenheit und zeugen offenbar
von einem kollektiven Gedächtnis, das auch drei Jahrzehnte nach
der sich anbahnenden Auflösung des Vielvölkerstaates präsent
ist. Doch in welcher Form? Erinnerungen sind stets Imitate einer
Vergangenheit, oft fragmentarisch, ohne konkreten Beginn oder
konkretes Ende, jedenfalls aber immer geprägt von Erfahrungen,
die man in späteren Lebensphasen gemacht hat und daher auch
beeinflusst von der aktuellen Stufe der psychischen Entwicklung.
Schließlich sind Erinnerungen neben anderen Merkmalen auch
immer flüchtig und labil, wie Aleida Assmann konstatiert; mit

dem Voranschreiten der Zeit und durch die Veränderung der Le¬
bensumstände ändern sich auch Erinnerungen, werden brüchiger
oder durch andere ergänzt, gehen aber auch oft zur Gänze verlo¬
ren. Letzteres tritt spätestens mit dem Ableben der Erinnerungs¬
träger und -trägerinnen ein. Daher erscheint es auch hinsichtlich
ex-jugoslawischer Communities in Österreich mittlerweile not¬
wendig, eine Art kulturelles Gedächtnis zu schaffen, das in der
Lage ist, Auskunft über die Entstehungsprozesse und den Wan¬
del dieser Communities zu geben.

Ein solches Projekt war bereits 2019 angedacht. In einer kleinen
oberösterreichischen bosnischen Community sollten im örtli¬
chen Kulturverein sowohl Geschichten von Arbeitsmigranten
und -migrantinnen als auch Fluchtberichte gesammelt werden. In
Kooperation mit der Gemeinde hätte der bosnische Kulturverein
unter wissenschaftlicher Beteiligung eine Ausstellung kuratieren
sollen. Die Realisierung scheiterte jedoch an der mangelnden Be¬
reitschaft der Community-Mitglieder; auch nach mehrmaligen
Nachfragen und unter Versicherung der Anonymität zeigte man
sich nicht bereit, die eigene Geschichte zu teilen. Über die Grün¬
de für diese Abwehrhaltung kann nur gemutmaßt werden.

Auch in der Wissenschaft werden jugoslawische Communities
noch größtenteils vernachlässigt. Während in den USA, Aust¬
ralien und teilweise auch Deutschland diese Gemeinden bereits
gut untersucht wurden, fanden solche Forschungen in Österreich
ausschließlich im Rahmen von Diplom-, Bachelor- und Mas¬
terarbeiten sowie Aufsätzen in Sammelbänden statt, in denen
bereits Grundlagen zur Erforschung der Lebenswelt dieser Be¬
völkerungsgruppe erarbeitet wurden. Künftige Untersuchungen
könnten sich insbesondere auf die oben bereits angedeutete Frage,
wie die Vergangenheit erinnert wird, aber auch sowohl auf den
Wandel jugoslawischer Communities nach der Ankunft der
Flüchtlinge als auch auf das Verhältnis zur eigenen Konfession
und die Auslegung dieser fokussieren. Als Basis können jeden¬
falls Forschungen zu den jugoslawischen Arbeitsmigranten und
-migrantinnen — den sogenannten Gastarbajteri — dienen. Diese
erscheinen nämlich keineswegs unwesentlich für gegenwärtige ju¬
goslawische Communities, da sie das Fundament für diese oft be¬
reits in den 1960er-Jahren legten. War das Tito-Regime anfangs
nicht darüber erfreut, dass die eigenen Bürger und Bürgerinnen
auswanderten, befürwortete man die Migrationsbewegung bald
mit dem Argument, die eigene Wirtschaft könne unter anderem
durch die privaten Überweisungen aus dem Ausland revitalisiert
werden, was tatsächlich aber nur marginale Auswirkungen auf
das Wirtschaftswachstum hatte. Stets wurde jedoch der temporä¬
re Charakter dieser Aktion hervorgehoben: Für wenige Wochen
oder Monate sollten die Menschen ihrer Arbeit im westeuropäi¬
schen Ausland nachgehen und schließlich wieder zurückkehren.
Häufig fanden sie dabei eine Anstellung in der Bauwirtschaft,
in der Gastronomie, in der verarbeitenden Industrie und über¬
haupt dort, wo unregelmäßige Arbeitszeiten Gang und Gabe und
Überstunden vorprogrammiert waren. Diese Möglichkeit wurde
vielerorts genutzt, Zeit für etwaige Freizeitaktivitäten blieb zu
Beginn kaum. Schließlich kehrte mit dem Einsetzen der Ener¬
giekrise 1973 ein Großteil der Jugoslawen und Jugoslawinnen
wieder zurück, auch von österreichischer Seite bestand nun im¬
mer weniger Bedarf nach zusätzlichen Arbeitskräften aus Dritt¬
ländern. Seither wurden in Westeuropa nur noch in Einzelfällen
gezielt Menschen aus dem Ausland angeworben.

Während sich in den siebziger Jahren also ein großer Teil der
Arbeitsmigranten und -migrantinnen wieder in Jugoslawien be¬

September 2021 17